Stilles Echo
Augen und einer ein wenig zu langen, vorspringenden Nase. Seine Worte zeugten von Mitleid, nicht von Ärger.
»Haben Sie… irgend etwas in Erfahrung gebracht?« wollte Sylvestra wissen. Ihr Atem ging ziemlich schnell, und sie hatte die Hände auf dem Schoß ineinander verkrampft.
»Nur sehr wenig, Mrs. Duff«, erwiderte er. »Falls irgend jemand beobachtet hat, was passiert ist, ist der Betreffende nicht bereit, davon zu sprechen. Wir haben es hier mit einem Viertel zu tun, in dem die Polizei nicht gerade gern gesehen ist. Die Menschen leben in den Randzonen des Gesetzes und haben zuviel zu verbergen, um freiwillig etwas zu verraten.«
»Ich verstehe.« Sylvestra hörte, was er sagte, aber er sprach von einer Welt, die sich ihrer Kenntnis entzog.
Evan betrachtete ihr ernstes und seltsam schönes Gesicht mit den hohen Wangenknochen und versuchte nicht, ihr etwas zu erklären, obwohl er begriffen haben mußte.
Hester erriet die Frage, die er stellen wollte, und sie wußte auch, warum es ihm schwerfiel, sie in Worte zu kleiden, ohne Sylvestra zu kränken. Überdies war es durchaus wahrscheinlich, daß Sylvestra nicht die geringste Ahnung von den Dingen hatte. Warum sollte ein Mann in Leighton Duffs Position in ein solches Viertel gehen? Um an einem illegalen Glücksspiel teilzunehmen, um Geld zu leihen, um seine Habe zu verkaufen oder zu verpfänden, um etwas Gestohlenes oder Gefälschtes zu erwerben – oder um eine Prostituierte zu treffen. Nichts von alledem konnte er seiner Frau erzählen. Selbst wenn es sich um eine vergleichsweise lobenswerte Angelegenheit handelte, wenn er zum Beispiel einem Freund in Schwierigkeiten beigestanden hätte, wäre es sehr unwahrscheinlich gewesen, daß er ihr so etwas mitgeteilt hatte. Solcherlei Schwierigkeiten waren privater Natur und wurden unter Männern ohne Beteiligung der Frauen ausgemacht.
Evan entschied sich für Offenheit, was Hester nicht weiter überraschte. Es entsprach seinem Wesen.
»Mrs. Duff, haben Sie irgendeine Ahnung, warum Ihr Mann in einen Bezirk wie St. Giles gehen sollte, noch dazu spät am Abend?«
»Ich… ich weiß nichts über St. Giles.« Es war eine ausweichende Antwort, der Versuch, ein wenig mehr Zeit zum Nachdenken zu gewinnen.
Evan konnte es sich nicht leisten, sich abweisen zu lassen.
»Es ist ein Viertel, in dem äußerste Armut herrscht. Ein Viertel, in dem wir es mit geringfügigen wie schwerwiegenden Verbrechen zu tun haben«, erklärte er. »Die Straßen sind schmal, schmutzig und gefährlich. Die Kanalisation läuft mitten hindurch. In den Hauseingängen liegen Betrunkene und schlafende Bettler. Manchmal sind sie sogar schon tot, vor allem zu dieser Zeit des Jahres, in der die Menschen sehr schnell an Kälte und Hunger sterben, besonders wenn sie bereits krank sind. Tuberkulose ist ein weitverbreitetes Übel dort.«
Sylvestras Gesicht verzerrte sich vor Abscheu und vielleicht auch vor Mitleid, aber ihr Entsetzen entzog sich jeder Ausdrucksmöglichkeit. Sie wollte nichts von solchen Dingen wissen, wollte aus verschiedenen Gründen nichts davon wissen. Es rüttelte an ihrem früheren Glück, es erschreckte und ekelte sie. Es bedrohte die Gegenwart. Das bloße Wissen um diese Dinge verseuchte die Gedanken.
»Die meisten Kinder dort erreichen nicht einmal das sechste Lebensjahr«, fuhr Evan fort. »Die Mehrheit leidet an Rachitis. Viele der Frauen arbeiten in Ausbeutungsbetrieben und Fabriken, aber eine große Anzahl verdient sich nebenbei noch ein wenig als Prostituierte, um über die Runden zu kommen, um ihren Kindern zu essen zu geben.«
Evan war zu weit gegangen. Das Bild, das er da zeichnete, war mehr, als Sylvestra ertragen konnte.
»Nein…«, sagte sie heiser. »Ich kann mir nur denken, daß er sich verirrt haben muß.«
Mit seinen nächsten Worten legte er eine Unbarmherzigkeit an den Tag, die eher zu Monk gepaßt hätte.
»Zu Fuß?« fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Spazierte er häufig des Nachts durch Londoner Viertel, in denen er sich nicht auskannte, Mrs. Duff?«
»Natürlich nicht!« Ihre Antwort kam eine Spur zu schnell.
»Was hat er gesagt? Wo wollte er hin?« hakte Evan nach. Sylvestra war sehr blaß, und ihre Augen waren glänzend und abweisend.
»Er hat nichts Besonders gesagt«, antwortete sie ihm. »Aber ich glaube, er hat sich auf die Suche nach meinem Sohn gemacht. Früher am Abend hatte es einen Wortwechsel wegen Rhys’ Benehmen gegeben. Ich war nicht im Zimmer, aber ich hörte die erhobenen
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