Stilles Echo
passiert ist!« Sie sah Hester an, als glaube sie, diese könne ihr eine Antwort auf ihre Fragen geben.
Es hätte nie eine Antwort gegeben, weder für Rhys noch für all die anderen jungen Männer, die furchtbarere Greuel erlebt hatten, als sie ertragen konnten. Der einzige Trost mochte darin bestehen, daß Zeit und Liebe zumindest einen Teil des Schmerzes heilen konnten.
»Versuchen Sie nicht, über den Vorfall zu sprechen«, riet Hester Sylvestra. »Ihre Gegenwart ist das einzige, was ihm helfen kann.«
Aber als Sylvestra in sein Zimmer kam, wandte Rhys sich ab. Er weigerte sich, sie anzusehen. Sie setzte sich auf die Kante des Bettes und streckte die Hand aus, um seinen Arm auf der Decke zu berühren. Rhys jedoch riß den Arm weg, und als sie abermals die Hand nach ihm ausstreckte, schlug er nach ihr und traf ihre Hand mit seinen Schienen, so daß er nicht nur ihr, sondern auch sich selbst weh tat.
Sylvestra stieß einen leisen, bekümmerten Schrei aus, der nicht dem körperlichen Schmerz galt, sondern der Zurückweisung. Sie saß reglos da und wußte augenscheinlich nicht, was sie tun sollte.
Rhys wandte den Kopf ab und sah nach wie vor in die andere Richtung.
Sylvestra warf einen Blick auf Hester.
Hester hatte keine Ahnung, warum Rhys mit solch plötzlicher Grausamkeit reagiert hatte. Der Grund dafür ließ sich nicht einmal erahnen – vielleicht lag er in seiner Verletzung, einem Gefühl der Schuld, daß er vielleicht in der Lage hätte sein sollen, seinen Vater zu retten, oder daß er, wenn er dies schon nicht zu tun vermocht hatte, wenigstens ebenfalls hätte sterben sollen. Hester wußte von Männern, deren Scham über ihr eigenes Überleben jenseits jeder Vernunft und jeden Trosts gelegen hatte. Sie waren unerreichbar in ihrem Gram, und alle Worte jener, die niemals wahrhaft begreifen konnten, ließ die Schroffheit des trennenden Abgrunds nur noch klarer erkennen, betonte ihre grenzenlose Einsamkeit nur noch.
Aber nichts von alledem hätte den Schmerz gelindert, den Sylvestra im Augenblick verspürte.
»Kommen Sie mit nach unten«, sagte Hester leise. »Wir lassen ihn ein wenig ausruhen, zumindest bis der Arzt kommt.«
»Aber…«
Hester schüttelte den Kopf. Rhys lag immer noch steif und reglos da. Jeder Überredungsversuch wäre vergeblich gewesen.
Widerstrebend erhob Sylvestra sich und folgte Hester aus dem Zimmer, durch den Flur und die Treppe hinunter. Sie sagte nichts. Sie war in einer Welt eingeschlossen, die von ihrer eigenen Verwirrung beherrscht wurde.
Kurz nach dem Mittagessen kam das Stubenmädchen mit der Ankündigung, daß der Mann von der Polizei wieder da sei.
»Können Sie hierbleiben?« fragte Sylvestra hastig. »Ich wäre Ihnen sehr dankbar.«
»Sind Sie sicher?« Hester war überrascht. Gewöhnlich hielten die Menschen ein solches Eindringen in ihr Privatleben gern vor anderen verborgen.
»Ja.« Sylvestras Stimme hatte einen entschiedenen Klang.
»Ja. Wenn er uns irgend etwas zu sagen hat, wird es für Rhys viel einfacher sein, wenn Sie es ebenfalls wissen. Ich…« Sie brauchte nicht auszusprechen, wie groß ihre Angst um ihren Sohn war, – die stand ihr nur allzu deutlich ins Gesicht geschrieben.
Evan wurde hereingebracht. Er wirkte verfroren und unglücklich. Das Mädchen hatte ihm seinen Hut und seinen Überzieher abgenommen, aber seine Hosenbeine waren an den Aufschlägen feucht, seine Stiefel durchnäßt, und auf seinen Wangen glitzerte Regenwasser. Es war einige Zeit vergangen, seit Hester ihn zum letzten Mal gesehen hatte, aber sie teilten viele Erfahrungen miteinander, sie hatten gemeinsam Triumph, aber auch Angst und Schmerz erlebt, und Hester hatte Evan immer gemocht. Er war von einer Sanftheit und Aufrichtigkeit, die sie ehrlich bewunderte. Manchmal war er scharfsichtiger, als Monk ihm zutraute. Nun war es nur taktvoll, sich so zu benehmen, als seien sie einander fremd.
Sylvestra übernahm die Vorstellung, und Evan deutete mit keinem Wort ihre bereits bestehende Bekanntschaft an.
»Wie geht es Mr. Duff?« fragte er.
»Er ist sehr krank«, antwortete Sylvestra hastig. »Er hat noch nicht gesprochen, wenn es das ist, worauf Sie gehofft hatten. Ich fürchte, ich weiß nicht mehr als bei Ihrem letzten Besuch.«
»Das tut mir leid.« Evans Gesicht spiegelte seine Enttäuschung wider. Seine Miene war ungemein ausdrucksstark und verriet mehr von seinen Gedanken und Gefühlen, als ihm lieb war. Evan war eine Spur zu dünn, mit leuchtenden, haselnußbraunen
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