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Stilles Echo

Stilles Echo

Titel: Stilles Echo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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seiner Kritik rechneten oder mit einem Seitenhieb, was die Qualität ihrer Arbeit, ihren Fleiß oder ihre Intelligenz betraf. Manchmal war sein Tadel gerecht gewesen, allzu häufig jedoch nicht.
    Er wollte John Evan abfangen, bevor dieser das Revier verließ, um sich seinem gegenwärtigen Fall zu widmen. Evan war der einzige Freund, auf den Monk sich verlassen konnte. Er war erst nach dem Unfall aufs Revier gekommen, und sie hatten gemeinsam den Fall Grey bearbeitet, hatten ihn Schritt um Schritt entwirrt und gleichzeitig Monks eigene Ängste und seine schreckliche Verletztheit bloßgelegt. Am Ende hatten sie die Wahrheit entdeckt, an die man heute nur mit einem Schaudern zurückdenken konnte. Evan kannte ihn besser als irgend jemand sonst, mit Ausnahme von Hester.
    Evan saß in seinem kleinen Büro, das kaum mehr war als ein geräumiger Wandschrank, groß genug für ein Schränkchen mit Schubladen, zwei harte Stühle und einen winzigen Tisch, an dem er schreiben konnte. Evan sah müde aus. Er hatte dunkle Schatten unter seinen haselnußbraunen Augen, und sein Haar war länger als gewöhnlich, so daß es ihm in einer schweren, hellbraunen Welle ins Gesicht fiel.
    Monk kam direkt zur Sache. Er war nicht so dumm, die Zeit eines Polizisten zu vergeuden.
    »Ich habe da einen Fall. Seven Dials«, begann er. »Der Randbezirk grenzt an Ihr Gebiet. Sie wissen vielleicht etwas darüber, und ich könnte Ihnen möglicherweise von Nutzen sein.«
    »Seven Dials?« Evan zog die Augenbrauen hoch. »Worum geht es? Wer in Seven Dials ruft einen Privatermittler? Und was das betrifft, wer hätte dort irgend etwas, das man ihm stehlen kann?« Es lag keine Unfreundlichkeit in seinen Zügen, nur das ermattete Wissen darum, wie die Dinge dort standen.
    »Es geht nicht um Diebstahl«, erwiderte Monk. »Es geht um Vergewaltigung und um unnötige Gewalttätigkeit, Prügel.«
    Evan zuckte kaum merklich zusammen. »Eine häusliche Angelegenheit? Ich glaube nicht, daß wir da viel ausrichten können. Wie sollte irgend jemand etwas beweisen? Es ist schon schwierig genug, eine Vergewaltigung in einem gepflegten, ordentlichen Vorort zu beweisen. Sie wissen so gut wie ich, daß die Gesellschaft zu der Auffassung neigt, eine Frau, die vergewaltigt wird, müsse es irgendwie verdient haben. Die Leute wollen einfach nicht glauben, daß so etwas auch Unschuldigen zustoßen kann. Auf diese Weise kann ein solches Unheil ihnen nämlich nicht widerfahren.«
    »Ja, natürlich weiß ich das!« Monk war gereizt, und sein Kopf hämmerte immer noch. »Aber ob eine Frau es verdient, vergewaltigt zu werden oder nicht, sie verdient es nicht, daß man sie verprügelt, ihr die Zähne ausschlägt oder ihr die Rippen bricht. Sie verdient es nicht, von zwei Männern gleichzeitig zu Boden geschlagen und dann mit Füßen und Fäusten bearbeitet zu werden.«
    Evan prallte zurück, als hätte er mit eigenen Augen gesehen, was Monk beschrieb. »Nein, natürlich verdient sie das nicht«, pflichtete er ihm bei. Dann sah er Monk ruhig in die Augen.
    »Aber Gewalttätigkeit, Diebstahl, Hunger und Kälte sind in einem Dutzend Londoner Bezirke ein Teil des Lebens, und dazu kommen noch Schmutz und Krankheiten. Das wissen Sie besser als ich. St. Giles, Aldgate, Seven Dials, Bermondsey, Friar’s Mount, Bluegate Fields, der Devil’s Acre und ein Dutzend andere. Aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Handelt es sich um eine häusliche Angelegenheit?«
    »Nein. Es waren Männer von außerhalb. Guterzogene, wohlsituierte Männer, die nach Seven Dials kamen, um sich ein wenig zu amüsieren.« Monk hörte den Zorn in seiner Stimme, als er diese Worte aussprach, und sah ein Abbild seiner Gefühle in Evans Gesicht.
    »Welche Beweise haben Sie?« fragte Evan, der ihn genau beobachtete. »Besteht auch nur die geringste Chance, die Männer jemals zu finden, ganz zu schweigen von der Möglichkeit, ihre Schuld zu beweisen, zu beweisen, daß es sich um ein Verbrechen gehandelt hat und nicht nur um die Befriedigung eines besonders abscheulichen Verlangens?«
    Monk holte bereits Atem, um zu sagen, daß er selbstverständlich Beweise habe, schloß dann den Mund aber wieder. Alles, was er hatte, war die Aussage von Frauen, denen kein Gericht Glauben schenken würde, selbst wenn man sie überreden konnte, eine Aussage zu machen. Und das allein war schon zweifelhaft.
    »Es tut mir leid«, sagte Evan leise. Sein Gesicht war angespannt und müde vor Bedauern. »Es hat keinen Sinn, da nachzuhaken.

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