Stilles Echo
gut. Warten Sie ein wenig. Lassen Sie sich Zeit, gesund zu werden. Gibt… gibt es etwas Spezielles, das Sie sagen wollen?«
Nichts. Seine Augen waren erfüllt von Grauen und Elend. Hester wartete und gab sich alle Mühe zu verstehen. Langsam füllten sich seine Augen mit Tränen, und er schüttelte den Kopf.
Sie strich ihm das dunkle Haar aus der Stirn. »Möchten Sie dann jetzt vielleicht schlafen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Soll ich Ihnen etwas zu lesen holen?« Er nickte.
Sie trat an das Bücherregal. Sollte sie versuchen, jegliche Lektüre auszuscheiden, die ihm vielleicht Schmerzen bereiten, ihn an seinen Zustand erinnern oder Erinnerungen wachrufen konnte? Würde sie damit nicht erst recht seinen Argwohn erregen?
Sie griff nach einer Übersetzung der Ilias. Das Buch war voller Schlachten und Tode, aber die Sprache war wunderschön und voller lebendiger Bilder und Licht, voller epischer Liebesgeschichten, Götter und Göttinnen, alten Städten und weindunklen Meeren. Es war eine Welt des Geistes fernab der Gassen von St. Giles.
Hester setzte sich auf den Stuhl neben Rhys’ Bett, und er lag still unter seiner Decke und lauschte ihrer Stimme, ohne auch nur eine Sekunde lang den Blick von ihrem Gesicht zu wenden. Es wurde elf Uhr, Mitternacht, ein Uhr, und endlich schlief er ein. Hester legte ein Lesezeichen in das Buch, klappte es zu und schlich auf Zehenspitzen aus dem Raum und in ihr eigenes Zimmer hinüber, wo sie sich aufs Bett legte und voll bekleidet einschlief.
Sie erwachte spät, war aber immer noch müde. Dennoch hatte sie besser geschlafen als in all den Nächten, seit sie in die Ebury Street gekommen war. Sie ging unverzüglich zu Rhys hinüber, der rastlos war, aber noch nicht wach genug, um zu frühstücken.
Unten begegnete sie Sylvestra. Sobald sie Hester sah, kam sie mit ängstlich angespannter Miene durch den Flur.
»Wie geht es ihm? Hat er schon etwas gesagt?« Sie schloß die Augen, als ärgere sie sich über sich selbst. »Es tut mir leid. Ich habe geschworen, daß ich diese Frage nicht stellen würde. Dr. Wade sagt, ich müsse Geduld haben, aber…« Sie hielt inne.
»Natürlich ist das schwierig«, versicherte Hester ihr. »Jeder Tag erscheint einem so lang wie eine ganze Woche. Aber ich habe ihm gestern bis spät in die Nacht vorgelesen, und er scheint gut geschlafen zu haben. Er wirkte jedenfalls sehr viel ruhiger.«
Ein Teil der Anspannung fiel von Sylvestra ab, ihre Schultern senkten sich ein wenig, und sie versuchte zu lächeln.
»Kommen Sie doch bitte mit ins Speisezimmer. Sie haben gewiß noch nicht gefrühstückt. Und ich auch nicht.«
»Vielen Dank.« Hester nahm die Einladung nicht nur deshalb an, weil sie von ihrer Arbeitgeberin kam, sondern weil sie hoffte, daß sie nach und nach mehr über Rhys erfahren würde, so daß sie ihm vielleicht ein wenig mehr Trost spenden konnte. Allerdings war seelischer Trost das einzige, was sie ihm anbieten konnte, abgesehen von praktischen Dingen wie den Mahlzeiten und seinen täglichen Waschungen. Darüber hinaus konnte sie sich nur um seine direkten persönlichen Bedürfnisse kümmern. Bisher hatte Dr. Wade ihr nicht mehr gestattet, als die oberflächlichen Wunden zu verbinden, und Rhys schlimmste Verletzungen rührten von inneren Wunden, die sie nicht erreichen konnte.
Das Speisezimmer war ansprechend möbliert, aber wie der Rest des Hauses zu üppig für Hesters Geschmack. Ein Tisch und das Sidebord waren aus elisabethanischer Eiche, solide und wuchtig, eine gewaltige Masse Holz. Die geschnitzten Stühle zu beiden Enden des Tisches hatten hohe Rückenlehnen und kunstvolle Armlehnen. Es gab keine Spiegel, die vielleicht ein wenig Licht und den Eindruck von Weite vermittelt hätten. Die Vorhänge waren aus weinrotem und rosafarbenem Brokat. An den Wänden hingen ein Dutzend oder mehr Bilder.
Aber der Raum war ausgesprochen behaglich. Die Sitzfläche der Stühle war weich gepolstert, und in dem in einer Nische gelegenen Kamin flackerte ein Feuer, das den ganzen Raum mit seiner Wärme erfüllte.
Sylvestra mochte nichts essen. Sie schob ein Stück Toast auf ihrem Teller hin und her und konnte sich nicht entscheiden, ob sie die Marmelade oder die Aprikosenkonfitüre nehmen wollte. Sie schenkte sich eine Tasse Tee ein und nippte daran, bevor der Tee weit genug abgekühlt war.
Hester fragte sich, was für ein Mann Leighton Duff gewesen sein mochte. Wie hatten sie einander kennengelernt und was hatte sich in ihrer Beziehung im
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