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Stilles Echo

Stilles Echo

Titel: Stilles Echo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Laufe von vielleicht fünfundzwanzig Jahren ereignet? Welche Freunde hatten Sylvestra geholfen, ihre Trauer zu bewältigen? Sie waren gewiß alle bei der Beerdigung anwesend gewesen, aber die war bereits vorüber. Sie hatte vor Hesters Ankunft stattgefunden, während der wenigen Tage, in denen Rhys im Krankenhaus gelegen hatte. Jetzt waren die offiziellen Trauerbesuche vorbei, und Sylvestra mußte die leeren Tage allein meistern.
    Anscheinend zählte Dr. Wades Schwester zu denjenigen, die Sylvestra sobald als möglich besuchen wollten, und er schien ebenfalls mehr zu sein als nur der Arzt der Familie.
    »Haben Sie schon immer hier gewohnt?« fragte Hester.
    »Ja«, antwortete Sylvestra, die sogleich aufgeblickt hatte, als sei auch sie dankbar für irgendein Gesprächsthema, als hätte sie nur nicht gewußt, wo sie anfangen solle. »Ja, ich lebe seit meiner Hochzeit hier.«
    »Das Haus ist ausgesprochen behaglich.«
    »Ja.« Sylvestras Antwort hatte etwas Automatisches, als sei das die Erwiderung, die man von ihr erwartete. Es hatte keine Bedeutung mehr für sie. Die Armut und die allgegenwärtigen Gefahren von St. Giles waren weiter von diesem Ort entfernt als die Streitigkeiten und die Götter der Ilias, denn sie lagen jenseits ihres Vorstellungsvermögens. Sylvestra riß sich zusammen. »Ja, Sie haben recht. Ich habe mich wahrscheinlich so sehr an die Annehmlichkeiten dieses Hauses gewöhnt, daß sie mir gar nicht mehr recht bewußt sind. Sie müssen da ganz andere Erfahrungen gemacht haben, Miss Latterly. Ich bewundere Ihren Mut und Ihr Pflichtgefühl, die Sie auf die Krim geführt haben. Meine Tochter Amalia hätte Sie gewiß gern kennengelernt. Ich glaube, Sie hätten sie ebenfalls gemocht. Sie hat einen überaus wachen Geist und den Mut, ihren Träumen zu folgen.«
    »Eine hervorragende Eigenschaft«, lobte Hester aufrichtig.
    »Sie haben viele Gründe, sehr stolz auf Ihre Tochter zu sein.« Sylvestra lächelte. »Ja, danke, vielen Dank. Miss Latterly…«
    »Ja?«
    »Kann Ryhs sich daran erinnern, was ihm zugestoßen ist?«
    »Das weiß ich nicht. Gewöhnlich erinnern die Leute sich, aber nicht immer. Ein Freund von mir hatte einmal einen Unfall und bekam einen Schlag auf den Kopf. Er hat nur ganz vage Vorstellungen von seinem Leben vor jenem Tag. Hier und da ein Bild oder ein Geräusch, vielleicht ein Geruch, irgend etwas, das ihn an etwas anderes erinnert, aber stets sind es nur Bruchstücke. Er muß sie, so gut er kann, zusammenfügen und auf den Rest verzichten. Er hat sich ein neues, gutes Leben aufgebaut.« Sie tat nicht länger so, als esse sie. »Aber Rhys hat keinen Schlag auf den Kopf bekommen. Er weiß, daß er zu Hause ist, und er hat Sie wiedererkannt. Es ist nur diese eine Nacht, an die er sich möglicherweise nicht erinnern kann, und vielleicht ist es das beste so. Es gibt Erinnerungen, die wir einfach nicht ertragen können. Das Vergessen ist die Art und Weise, wie die Natur uns hilft, unseren Verstand unversehrt zu erhalten. Es ist die Art und Weise, wie der Geist heilen kann, wo natürliches Vergessen unmöglich wäre.«
    Sylvestra starrte auf ihren Teller. »Die Polizei wird versuchen, ihn dazu zu zwingen, sich zu erinnern. Sie werden wissen wollen, wer ihn angegriffen hat, wer meinen Mann ermordet hat.« Sie blickte auf. »Was ist, wenn er es nicht ertragen kann, sich zu erinnern, Miss Latterly? Was, wenn sie ihn dazu zwingen, ihm Beweise zeigen, einen Zeugen herbringen oder sonst etwas in der Art? Wenn sie ihn zwingen, das Ganze noch einmal zu durchleben? Wird es ihn zerbrechen? Können Sie das nicht verhindern? Gibt es denn gar keine Möglichkeit, wie wir ihn schützen können? Es muß eine Möglichkeit geben!«
    »Ja, natürlich«, sagte Hester, bevor sie wirklich nachgedacht hatte. Im Geiste sah sie Rhys, wie er verzweifelt versuchte, zu sprechen, sie sah seine vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen, seinen schweißüberströmten Körper, während er sich in seinem Alptraum gegen ein unsichtbares Grauen zur Wehr setzte, steif vor Angst, die Kehle verzerrt zu einem lautlosen Schrei, von Schmerzen geschüttelt, während niemand ihn hörte, niemand kam. »Er ist viel zu krank, um solchen Strapazen ausgesetzt zu werden. Ich bin gewiß, daß Dr. Wade den Polizisten die Lage erklären wird. Da Rhys weder sprechen noch schreiben kann, kann er kaum etwas anderes tun, als Ja oder Nein anzudeuten. Die Polizei wird diesen Fall auf anderem Wege lösen müssen.«
    »Aber ich wüßte nicht, wie!«

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