Stilles Echo
Möglicherweise wird er nicht wieder gesund.«
»Reden Sie von seiner Fähigkeit zu sprechen oder von seinem Leben?«
»Sowohl als auch.«
»Ich verstehe. Ich bedanke mich noch einmal für Ihre Freundlichkeit. Gute Nacht, Dr. Wade.«
»Gute Nacht, Sergeant.«
Am nächsten Morgen traf Evan sich wieder mit Shotts in der Gasse in St. Giles, und gemeinsam machten sie sich von neuem auf die Suche nach Zeugen, Beweisen, irgend etwas, das sie zur Wahrheit führen würde. Evan konnte die Möglichkeit, daß Sylvestra Duff irgendwie mit dem Tod ihres Mannes zu tun hatte, nicht vollkommen ausschließen. Es war ein häßlicher Gedanke, aber jetzt, da er einmal aufgekommen war, sah Evan einige Dinge, die dafür sprachen. Zumindest hinreichend, um Nachforschungen zu rechtfertigen.
War es dieses Wissen, daß Rhys so sehr entsetzte, daß er nicht sprechen konnte? War das der Grund für seine scheinbare Kühle seiner Mutter gegenüber? War das die Last, die ihn quälte und zum Schweigen verurteilte?
Wer war der Mann? War er ein Komplize oder lediglich das ahnungslose Motiv? War es Corriden Wade, und wußte Rhys darüber Bescheid?
Oder war es, wie der Doktor angedeutet hatte, Rhys’ eigene Schwäche, die ihn nach St. Giles geführt hatte, und war sein Vater ihm aus einer verzweifelten Sorge heraus gefolgt und nachdem er seinen Sohn zur Rede gestellt hatte, dafür getötet worden?
Was zu einer weiteren furchtbaren Frage führte: Welche Rolle hatte Rhys beim Tod seines Vaters gespielt? War er Zeuge gewesen – oder mehr?
»Haben Sie diese Bilder?« fragte er Shotts.
»Was? O ja!« Shotts nahm die zwei Zeichnungen aus der Tasche, die von Rhys, so gut der Maler sein Aussehen einzuschätzen vermocht hatte, wenn man seine gegenwärtigen Verletzungen außer acht ließ; die andere von Leighton Duff, die zwangsläufig schlechter und ungenauer war, da sie nach einem Porträt in der Halle angefertigt worden war. Aber diese Zeichnungen genügten, um einen lebhaften Eindruck der beiden Männer wachzurufen, wie sie ausgesehen haben mußten.
»Haben Sie immer noch nichts in Erfahrung gebracht?« hakte Evan nach. »Hausierer, Straßenhändler oder Droschkenkutscher? Irgend jemand muß sie doch gesehen haben!«
Shotts biß sich auf die Unterlippe. »Niemand gibt zu, sie gesehen zu haben«, erwiderte er offen.
»Was ist mit den Frauen?« fuhr Evan fort. »Wenn sie wegen einer Frau hier waren, muß irgend jemand sie doch gekannt haben!«
»Nicht unbedingt«, wandte Shotts ein. »Eine schnelle Nummer in einer Gasse oder einem Hauseingang. Wer schert sich um Gesichter?«
»Man sollte denken, die Frauen wären heutzutage vorsichtiger, was Vertraulichkeiten auf der Straße betrifft. Wie ich höre, sind in letzter Zeit mehrere Frauenzimmer und Freizeitprostituierte böse vergewaltigt worden«, bemerkte er.
»Ja«, sagte Shotts mit einem Stirnrunzeln. »Das habe ich auch gehört. Aber diese Dinge sind drüben in Seven Dials passiert, nicht hier.«
»Von wem haben Sie denn davon erfahren?« wollte Evan wissen.
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen.
»Was?«
»Von wem haben Sie davon erfahren?« wiederholte Evan.
»Oh, von einem Straßensänger«, antwortete Shotts beiläufig.
»Es war eine von seinen Geschichten. Ich weiß natürlich, daß die Hälfte davon Unsinn ist. Aber ich nehme an, ein Körnchen Wahrheit wird schon daran sein.«
»Ja…«, pflichtete Evan ihm bei. »Traurigerweise ist es so. Ist das alles, was Sie herausgefunden haben?«
»Ja. Zumindest was den Vater betrifft. Bei dem Sohn liegen die Dinge ein wenig anders. Einige Frauen glauben, sie hätten ihn gesehen. Aber ganz sicher war sich keine. Die meisten Leute achten nicht weiter auf Gesichter. Was glauben Sie, wie viele Männer es gibt, die groß, eher dünn und dunkelhaarig sind?«
»Nicht allzu viele, die aus der Ebury Street kommen und in St. Giles ihrem Vergnügen nachjagen«, antwortete Evan trocken.
Shotts sagte nichts mehr. Seite an Seite trotteten sie wieder von einem erbärmlichen Bordell zum nächsten, zeigten ihre Bilder vor, stellten Fragen, hakten nach, schmeichelten oder drohten. Am Ende war Evans Respekt für Shotts Fähigkeiten beträchtlich gewachsen. Er schien instinktiv zu wissen, wie er jeden einzelnen behandeln mußte, um ihn gesprächig zu machen. Shotts kannte überraschend viele Leute, und zu einigen von ihnen hatte er ein recht herzlich wirkendes Verhältnis. Sie machten Witze, und er fragte nach den Kindern, die er sogar beim Namen
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