Stimmen der Angst
nur eine Reihe subjektiver Beobachtungen zu nehmen und den richtigen Betrachtungswinkel zu finden brauchte, dann konnte man das hypothetische und das gesetzmäßige Stadium getrost überspringen und gleich die Entdeckung einer neuen Verhaltenstheorie verkünden.
Wissenschaft war Mühsal und Plackerei. Die Psychologie dagegen war für den jungen Ahriman eindeutig ein Spiel – und die Menschen waren sein Spielzeug.
Er gab immer vor, die Entrüstung seiner Kollegen zu teilen, wenn ihr Metier als weiche Wissenschaft verunglimpft wurde, aber wenn er der Psychologie schon einen Aggregatzustand hätte zuordnen müssen, so hätte er sie als flüssig , wenn nicht gar gasförmig bezeichnet, und genau das war die Eigenschaft, die er an ihr so schätzte. Die Macht eines Wissenschaftlers, dessen Arbeit auf harten Fakten basierte, stieß durch eben diese Fakten an ihre Grenzen; aber der Psychologie wohnte die Macht des Aberglaubens inne, und dieser konnte das Leben der Menschen nachhaltiger beeinflussen als Elektrizität, Antibiotika und Atombombe zusammen.
Nachdem er als Dreizehnjähriger sein College-Studium aufgenommen hatte, erwarb er seinen Doktortitel der Psychologie bereits an seinem siebzehnten Geburtstag. Da ein Psychiater im Allgemeinen größere Bewunderung und höheres Ansehen genießt als ein Psychologe, und da er wusste, dass ihm die mit jenem Titel verbundene Autorität die Spiele, die ihm vorschwebten, leichter machen würde, fügte er seinem Lebenslauf noch einen medizinischen Abschluss und alle anderen erforderlichen Referenzen hinzu.
Angesichts der Tatsache, dass das Medizinstudium hartes wissenschaftliches Arbeiten erforderte, hatte er ursprünglich befürchtet, dass es ihn langweilen würde, aber es erwies sich im Gegenteil als ausgesprochen kurzweilige Angelegenheit. Schließlich hatte man es in der medizinischen Ausbildung sehr oft mit Blut, Schleim und anderen Körpersekreten zu tun; es boten sich ihm jede Menge Gelegenheiten, Schmerzen und Leid mit anzusehen, und wo Schmerzen und Leid gediehen, herrschte kein Mangel an Tränen.
Der Anblick von Tränen hatte ihn als kleinen Jungen mit demselben Staunen erfüllt, wie es andere Kinder empfinden, wenn sie einen Regenbogen, einen Sternenhimmel oder ein Glühwürmchen betrachten. Beim Eintritt in die Pubertät hatte er entdeckt, dass der bloße Anblick von Tränen seinen Sexualtrieb stärker entflammte als ein Hardcore-Porno.
Er selbst hatte noch nie geweint.
Jetzt stand der Arzt am Fußende des Bettes und beobachtete aufmerksam Susans tränenfeuchtes Gesicht. Bodenlose Seen, ihre Augen. Ihre Seele drohte darin zu ertrinken. Er würde das Ziel seines Spiels erreicht haben, wenn sie für immer dann versank. Nicht in dieser Nacht jedoch. Aber bald.
»Sag mir, wie alt du bist«, forderte er sie auf.
»Zwölf«, entgegnete sie mit dünner Schulmädchenstimme.
»Du wirst jetzt in der Zeit vorangehen, Susan. Du bist dreizehn … vierzehn … fünfzehn … sechzehn. Sag mir, wie alt du bist.«
»Sechzehn.«
»Du bist jetzt siebzehn … achtzehn …«
Er versetzte sie Schritt für Schritt in die Gegenwart zurück, in die Stunde und Minute, die der Wecker neben dem Bett anzeigte, und dann befahl er ihr, sich anzuziehen.
Slip und T-Shirt, in denen sie sich zu Bett begeben hatte, lagen zerknüllt auf dem Fußboden. Sie hob die Kleidungsstükke mit den langsamen, bedächtigen Bewegungen eines Menschen in Trance auf.
Während Susan auf der Bettkante saß und sich den weißen Baumwollslip über die schlanken Beine streifte, krümmte sie sich plötzlich, wie von einem Schlag in den Solarplexus getroffen, zusammen und stieß die Luft mit einem pfeifenden Geräusch aus. Dann atmete sie schaudernd ein, und gleich darauf spie sie voller Ekel und Entsetzen aus, spie noch einmal aus, als musste sie einen widerwärtigen Geschmack loswerden, bis Speichelfaden wie die Schleimspuren einer Schnecke auf ihren Schenkeln glänzten. Das Spucken ging in krampfhaftes Würgen über, und zwischen diesen jammervollen Lauten presste sie unter größter Mühe immer wieder zwei Worte hervor – »Warum, Daddy, Daddy, warum?« –, denn obwohl sie nicht mehr glaubte, zwölf Jahre alt zu sein, blieb ihr die Überzeugung, von ihrem geliebten Vater brutal vergewaltigt worden zu sein.
Für den Arzt war dieser unerwartete Ausbruch ihrer Qual und Scham ein letzter Leckerbissen, ein kleines Minttäfelchen nach dem Abendessen, eine Schokoladentrüffel nach dem Cognac. Er stand vor ihr und
Weitere Kostenlose Bücher