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Stimmen der Angst

Stimmen der Angst

Titel: Stimmen der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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sog in vollen Zügen den schwachen, aber doch unverwechselbar salzigen Duft ein, den ihre Tranen verströmten.
    Als er ihr väterlich eine Hand auf den Kopf legte, zuckte Susan unter der Berührung zusammen, und statt des gepressten Warum, Daddy? kam ihr nur noch ein leises, wortloses Wimmern über die Lippen. Dieses erstickte Klagen erinnerte ihn an das unheimliche Heulen der Kojoten in einer warmen Wüstennacht, die in eine noch fernere Vergangenheit gehörte als Scottsdale, Arizona, und Minette Luckland, die sich auf dem Speer der Diana aufspießte.
    Kurz hinter der Lichtergrenze von Santa Fe, New Mexico, liegt eine Pferderanch: ein schönes Backsteinhaus, Stauungen, Reitplätze, eingezäunte, mit saftigen Grasbüscheln gesprenkelte Koppeln, umgeben von einer Prärielandschaft, in der sich die Kaninchen zu Tausenden tummeln und Coyoten nachts in Rudeln jagen. An einem Sommerabend, zwei Jahrzehnte bevor auch nur ein Mensch einen Gedanken an das heraufdämmernde neue Jahrtausend verschwenden wird, nimmt Fiona Pastore, die hübsche Frau des Ranchers, einen Anruf entgegen und lauscht den drei Zeilen eines Haiku, eines Gedichts von Buson. Sie kennt den Arzt von gesellschaftlichen Anlassen her – aber auch, weil ihr zehnjähriger Sohn Dion wegen seines schweren Stotterns bei ihm in Behandlung ist Dutzende Male hatte Fiona Sex mit dem Arzt, nicht selten von so perversen Praktiken begleitet, dass sie anschließend in Depressionen verfiel, obwohl die Erinnerung an ihre Begegnungen spurlos aus ihrem Gedächtnis gestrichen wurde. Sie ist keine Gefahr für den Arzt, aber sie hat körperlich für ihn ausgedient, und er ist jetzt bereit, in das letzte Stadium ihrer Beziehung einzutreten.
    Durch das Haiku aus der Ferne in Gang gesetzt, nimmt Fiona ihre tödlichen Anweisungen widerspruchslos entgegen, begibt sich unverzüglich in das Arbeitszimmer ihres Mannes und schreibt dort einen kurzen, aber ergreifenden Abschiedsbrief, in dem sie ihren ahnungslosen Gatten einer Reihe frei erfundener Scheußlichkeiten bezichtigt. Dies erledigt, schließt sie den Waffenschrank auf, der sich im selben Zimmer befindet, und nimmt einen sechsschüssigen .45er Colt heraus, dem ein Seville-Rahmen zugrunde liegt, keine Kleinigkeit für eine Frau von eins sechzig Größe und fünfzig Kilo Gewicht, aber sie kann damit umgehen. Sie ist eine waschechte Südstaatlerin, dort geboren und groß geworden; in mehr als der Hälfte ihres dreißigjährigen Lebens haben Jagd- und Zielschießen zu ihrem Alltag gehört. Sie lädt die Waffe mit .44er Keith-Patronen, die eine Geschossmasse von 325 Grain aufweisen, und geht zum Schlafzimmer ihres Sohns. Dions Fenster ist geöffnet, damit frische Luft hereinkommt, ein Fliegengitter hält die Wüsteninsekten ab. Als Fiona eine Lampe einschaltet, bietet sich dem Arzt ein Blick wie einem Zuschauer direkt an der Ziellinie des 50-Meter-Laufs. Normalerweise ist es ihm nicht möglich, diese Momente absoluter Kontrolle mit anzusehen, weil er sich nicht der Gefahr der Entdeckung aussetzen will – obwohl er Freunde in den höchsten Etagen hat, die im Zweifelsfall für seine Entlastung sorgen würden. Aber diesmal bietet sich ihm die einmalige Gelegenheit, das Geschehen aus nächster Nähe zu bezeugen, und er kann der Versuchung nicht widerstehen. Das Gestüt liegt zwar nicht völlig einsam, ist jedoch abgelegen genug. Der Ranchverwalter und seine Frau, beide bei den Pastores angestellt, sind zu ihren Angehörigen in Pecos, Texas, zu Besuch gefahren, wo um diese Zeit das alljährlich stattfindende fröhliche Cantaloupe-Fest gefeiert wird, und die drei Rancharbeiter wohnen nicht auf dem Gelände. Ahriman hat Fiona von unterwegs aus angerufen, als er nur noch eine Viertelmeile vom Haus entfernt war, den Rest der Strecke ist er zu Fuß gegangen und hat Dions Fenster gerade pünktlich erreicht, bevor die Frau das Zimmer betreten und das Licht eingeschaltet hat. Der schlafende Junge wacht nicht auf, was enttäuschend ist für den Arzt, der Fiona am liebsten wie ein Pfarrer im Beichtstuhl durch den Fliegendraht ansprechen und ihr befehlen würde, ihren Sohn zu wecken. Er zögert, und sie tut nicht, was er sich wünscht, sondern erledigt das träumende Kind kurzerhand mit zwei Schüssen. Ihr Mann Bernardo stürzt schreiend vor Entsetzen herein, worauf seine Gattin zwei weitere Schusse abfeuert. Er ist sehnig und sonnengebräunt, einer dieser abgehärteten Western-Typen, die mit ihrer wettergegerbten Haut und ihren hitzegestählten

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