Stimmen der Angst
Gliedern aussehen, als könnte ihnen eine Kugel nichts anhaben, aber diese Patronen prallen natürlich nicht von ihm ab, sondern bohren sich mit furchtbarer Wucht in seinen Körper. Er taumelt und stürzt gegen eine hohe Kommode, an der er sich, ein seltsamer Anblick mit seinem schief sitzenden zerschmetterten Unterkiefer, verzweifelt festklammert. Seine lampenrußschwarzen Augen verraten, dass ihn der Schock schwerer getroffen hat als die .44er Kugeln. Seine Augen weiten sich noch mehr, als er den Arzt hinter dem Fliegengitter am Fenster erblickt. Schwärze hinter der Lampenrußschwärze, lichtlose Unendlichkeit in seinen fassungslosen Augen. Ein Zahn oder ein Knochensplitter löst sich aus den Trümmern seines Unterkiefers: Der Mann sackt in sich zusammen und stürzt, dem weißen Bröckchen folgend, zu Boden.
Ahriman findet das Schauspiel noch amüsanter, als er gehofft hat, und wenn er je an seiner Berufswahl gezweifelt hat, so wird das nach diesem Erlebnis nie wieder vorkommen. Weil manche Gelüste nicht leicht zu befriedigen sind, mochte er den Genuss steigern, sozusagen die Lautstärke aufdrehen, indem er Fiona zumindest ein Stück weit aus ihrem Zustand, der mehr als eine Trance, aber nicht ganz eine Absenz ist, auf eine höhere Ebene des Bewusstseins führt. Im Augenblick ist ihr Ich so vollkommen ausgeschaltet, dass sie sich ihrer Taten nicht bewusst ist und darum auch keine sichtbare Reaktion auf das Gemetzel zeigt. Könnte er die Kontrolle gerade so weit zurücknehmen, dass sie gefühlsmäßig erfasst, was geschehen ist – so würde ihre unendliche Qual einen Tränenstrom hervorbringen, eine Flutwelle, auf der Ahriman sich in nie gesehene Gefilde treiben lassen konnte.
Aber er zögert und das aus gutem Grund. Wenn die Fesseln dieser Frau so weit gelockert werden, dass sie die Ungeheuerlichkeit ihres Verbrechens erkennt, ist ihre Reaktion nicht berechenbar. Sie könnte ihre Fesseln gänzlich und unwiderruflich abstreifen. Er ist zwar davon überzeugt, dass er sie schlimmstenfalls innerhalb einer Minute durch verbale Kommandos wieder unter Kontrolle bringen kann, aber sie würde andererseits nur Sekunden brauchen, um sich dem geöffneten Fenster zuzuwenden und eine Kugel ins Schwarze zu feuern. Jedes Spiel und jeder Sport ist mit Verletzungsgefahren verbunden: ein aufgeschürftes Knie, ein gestauchter Knöchel, eine kleine Prellung, hier und da eine harmlose Fleischwunde, der eine oder andere im Eifer des Gefechts ausgeschlagene Zahn. Aber allein die Möglichkeit, dass er eine Kugel ins Gesicht bekommen könnte, reicht dem Arzt völlig, um allen Spaß an dem ausgelassenen Spiel zu verlieren. Also sagt er nichts, sondern lässt die Frau ihr Moritatenstück im Zustand geistiger Umnachtung zu Ende führen.
Im Angesicht ihrer ermordeten Familie steckt Fiona Pastore ruhig den Lauf des Colts in den Mund und richtet sich, bedauerlicherweise tränenlos, selbst. Sie fällt fast lautlos, nur ein stählernes Kratzen erzeugt einen kalten Widerhall: Der Revolver in ihrer Hand, deren Zeigefinger sich im Abzug verhakt hat, schlägt gegen die Bettstrebe aus Kiefernholz.
Nun, da das Spielzeug zerbrochen ist und er sich nicht mehr an seinem Mechanismus erfreuen kann, steht der Arzt noch eine Weile am Fenster und betrachtet ein letztes Mal prüfend die kunstvolle Perfektion ihrer Form. Natürlich ist sie, da der Hinterkopf verschwunden ist, kein so erfreulicher Anblick mehr wie zuvor, aber die Austrittswunde befindet sich auf der von ihm abgewandten Seite des Kopfes, und die Knochenstruktur ihres Gesichts ist durch den Schuss erstaunlicherweise nur geringfügig in Mitleidenschaft gezogen.
Das gespenstische Heulen der Kojoten dringt bereits durch die Nacht, seit der Arzt am Haus angelangt ist, aber bislang haben die Tiere ein paar Meilen weiter östlich im Gestrüpp gejagt. An der veränderten Tonhöhe, einem neuen, aufgeregten Beiklang in ihrem Geheul, merkt der Arzt, dass sie nun näherkommen. Wenn sich der Blutgeruch in der Wüstenluft rasch verbreitet, konnten sich die Präriewölfe schon bald unter dem Fenster mit dem Fliegengitter zusammenrotten und mit lautem Gebell ihren Anspruch auf die Toten verkünden.
In der indianischen Überlieferung ist der Kojote die verschlagenste aller Kreaturen, und da Ahriman keinen Lustgewinn darin sieht, sich mit einem Rudel dieser Tiere zu messen, macht er sich schnell, wenn auch nicht im Laufschritt, auf den Rückweg zu seinem Jaguar, den er nördlich des Hauses, eine Viertelmeile
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