Stimmen der Angst
niemand hatte sie als Infusionsgestell zweckentfremdet.
Sein Herz flatterte nicht. Es klopfte. Soweit er es beurteilen konnte, war es immer noch sein persönlicher Hort, in dem sich nichts eingenistet hatte als seine ureigenen Hoffnungen, Ängste und Vorurteile.
Valet schnaubte leise.
Martie erfreute sich an Dustys Seite des gesunden Schlafs einer Frau, die keine Sorgen quälen – ein Zustand, der in ihrem Fall allerdings auch einer Dreifachdosis schlaffördernder Antihistaminika zu verdanken war.
Dusty umkreiste in Gedanken seinen Traum, solange er ihm noch frisch im Gedächtnis war, und betrachtete ihn aus verschiedenen Blickwinkeln. Er versuchte, das zu beherzigen, was er vor langer Zeit von der Bleistiftzeichnung eines Waldes gelernt hatte, der sich in eine gotische Metropolis verwandelte, wenn man ihn frei von jeder Erwartung ansah.
Normalerweise hatte er nicht die Angewohnheit, seine Träume zu deuten.
Glaubte man allerdings Freuds Theorien, so konnte man einen wahren Festschmaus für einen Psychoanalytiker zutage fördern, wenn man im Trüben seines Unterbewusstseins fischte. Auch Dr. Derek Lampton, Dustys Stiefvater und der letzte von Claudettes vier Ehemännern, hatte seine Angelschnur in diese Gewässer gehängt und mit schöner Regelmäßigkeit fragwürdige, glitschige Hypothesen an Land gezogen, mit denen er seine ahnungslosen Patienten fütterte, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass sie vielleicht giftig sein konnten.
Freud und Lampton, die Echse, waren ein Grund mehr für Dusty, Träumen keine Bedeutung beizumessen. Aber jetzt spürte er, obwohl es ihm zutiefst gegen den Strich ging, dass in diesem Traum vielleicht ein Körnchen Wahrheit steckte. Der Versuch, in diesem Haufen Mist den Splitter einer reinen Tatsache zu finden, würde allerdings einer Herkulesaufgabe gleichkommen.
Wenn jedoch sein eidetisches und auditives Gedächtnis Träume ebenso detailliert und zuverlässig speicherte wie reale Erlebnisse, konnte er zumindest sicher sein, dass er beim gründlichen Wühlen im Unrat dieses Albtraums früher oder später auf das glänzende Stückchen Wahrheit stoßen würde, das seiner Entdeckung harren mochte wie ein Silberlöffel aus dem Familienerbe, der versehentlich mit den Küchenabfällen in der Mülltonne gelandet ist.
36. Kapitel
»Das Video«, wiederholte Susan auf Ahrimans Frage, während ihr Blick wieder zu dem Bonsai-Bäumchen wanderte.
Der Arzt lächelte verwundert. »In Anbetracht der Dinge, die du getan hast, bist du wirklich ein sehr anständiges Mädchen geblieben. Beruhige dich, meine Liebe, ich habe erst einen Film von dir gemacht – ein ganz erstaunlicher Neunzigminüter allerdings, das muss ich zugeben –, dem nur noch einer folgen wird, wenn wir uns das nächste Mal sehen. Niemand außer mir bekommt meine kleinen Amateurfilme zu Gesicht. CNN und NBC werden sie nicht ausstrahlen, darauf kannst du dich verlassen. Obwohl sie damit ungeahnte Einschaltquoten erzielen könnten, meinst du nicht auch?«
Susan starrte zwar immer noch das Bonsai-Bäumchen an, aber jetzt war dem Arzt klar, warum sie den Blick von ihm abwenden konnte, obwohl er ihr befohlen hatte, ihm in die Augen zu sehen. Die Scham gab ihr die enorme Kraft, die sie für diesen kleinen Akt des Aufbegehrens brauchte. Wir alle tun manchmal Dinge, deren wir uns schämen, und wir kommen – mehr oder weniger mühelos – mit uns selbst ins Reine, indem wir jedes Sandkorn in unserem Gewissen in einer Perle aus Schuldgefühlen einschließen. Im Gegensatz zur Scham können Schuldgefühle beinahe so beruhigend sein wie Tugendhaftigkeit, weil sie bewirken, dass wir die scharfen Kanten des Fremdkörpers, den sie umschließen, nicht mehr spüren, und die Schuld selbst ins Zentrum unseres Interesses rücken. Susan hätte aus den Momenten der Scham, in die Ahriman sie gestürzt hatte, eine ganze Kette auffädeln können; weil sie sich aber der Existenz des Videobandes bewusst war, gelang es ihr nicht, ihre kleinen Perlen der Schuld zu bilden und das Schamgefühl darin einzuhüllen.
Der Arzt befahl ihr, ihm in die Augen zu sehen, worauf sie ihm nach kurzem Zögern den Blick wieder zuwandte.
Nun forderte er sie auf, die Stufen ihres Bewusstseins noch einmal hinunterzusteigen bis in die innere Kapelle, aus der sie zur Belebung des Spiels zuvor mit seiner Erlaubnis ein kleines Stück aufgetaucht war.
Als sie den Grund dieser Festung erreicht hatte, zuckten ihre Augen einen Moment lang hin und her. Ihr bewusstes
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