Stimmen der Angst
ist riesig, vom Kopf bis zu den Schwanzfedern misst er sicherlich einen Meter. Mit seinen stechenden Pterodactylusaugen wirkt er wie eine prähistorische Erscheinung. Flügelschatten huschen über die Wände, flitternde, fiedrige Formen im flackernden Lichtschein.
Seinem Schatten voraus schießt der Vogel pfeilschnell auf Dusty zu, und dieser weiß genau, dass er auf seiner Brust landen und ihm die Augen aushacken wird. Seine Arme fühlen sich an, als wären sie am Bett festgeschnallt, obwohl der rechte doch nur durch die Druckmanschette in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist und der linke durch nichts anderes niedergehalten wird als durch die Schiene, die verhindern soll, dass er den Arm beugt, solange die Nadel in der Vene steckt. Aber er liegt bewegungsunfähig und hilflos da, während sich der Vogel kreischend auf ihn stürzt.
Der Blitz springt vom Fernseher auf die Stehlampe über, worauf der durchsichtige Plastikbeutel mit der Traubenzuckerlösung wie der Glühstrumpf in einer Gaslaterne zu leuchten beginnt, und ein heißer Schauer messingfarbener Funken – die eigentlich das Bett in Brand setzen müssten, was sie aber nicht tun – regnet auf Dusty herunter. Der Schatten des herabstürzenden Reihers zerbirst in Tausende von Splittern, und als die Myriaden heller und dunkler Pünktchen flimmernd durcheinander schwärmen, schließt Dusty angstvoll und verwirrt die Augen.
Etwas – vielleicht der unsichtbare Besucher – sagt ihm, dass er sich nicht zu fürchten braucht, aber sobald er die Augen wieder aufschlägt, bietet sich ihm ein grässlicher Anblick. Der Vogel ist so klein zusammengepresst, gestampft-gewrungengequetscht, dass er jetzt in den prallen Infusionsbeutel passt. Selbst in dieser komprimierten Form ist der Reiher noch erkennbar – wenn er auch aussieht wie von einem unausgegorenen Möchtegern-Picasso mit einem Hang zum Makabren gemalt. Damit nicht genug, ist er immer noch lebendig und krächzt, wobei seine schrillen Schreie allerdings von den durchsichtigen Wänden seines Plastikkerkers gedämpft werden. Er versucht sich im Innern des Beutels zu winden, will sich mit seinem scharfen Schnabel und seinen Krallen befreien, schafft es aber nicht und verdreht eines seiner schwarzen Augen, um mit dämonischem Blick auf Dusty herabzustarren.
Der hat das Gefühl, auch gefangen zu sein, wie er da hilflos unter dem baumelnden Vogel liegt: kraftlos wie ein Gekreuzigter, dieser mit der finsteren Kraft eines zum Hohn für einen satanischen Christbaum entworfenen Schmucks. Dann zerfällt der Reiher zu einer blutig-braunen, dickflüssigen Masse, und die klare Lösung im Infusionsschlauch beginnt sich zu trüben, während die stoffliche Substanz des Vogels aus dem Beutel sickert und sich weiter, immer weiter nach unten bewegt. Dusty sieht, wie der widerliche Schleim den Infusionsschlauch Zentimeter für Zentimeter verunreinigt, und er will schreien, bringt aber keinen Ton heraus. Wie gelähmt, mit gierigen Atemzügen, die aber so lautlos sind, als würde er in einem Vakuum um Luft ringen, versucht er, die rechte Hand zu heben und den Infusionsschlauch herauszuziehen, will sich vom Bett rollen, was ihm aber nicht gelingt, verdreht die Augen, um den letzten Zentimeter des Schlauchs sehen zu können, in den das Gift jetzt einsikkert, bevor es die Nadel erreicht.
Der Vogel taucht mit einem schrillen Schrei in sein Blut ein und eine entsetzliche Hitze schießt ihm in den Körper, als würde ein Blitz durch seine Adern fahren. Er spürt, wie der Vogel durch die Vene zur Körpermitte hin strömt, durch den Bizeps und in den Torso, und Bruchteile von Sekunden später erhebt sich ein unerträgliches Flattern in seinem Herzen, ein aufgeregtes Zupfen-Picken-Plustern, als würde darin ein Nest gebaut.
Martie, immer noch im Lotussitz auf Valets Lammfelllager, schlägt die Augen auf. Sie sind nicht blau wie sonst, sondern so schwarz wie ihr Haar. Keine Spur von Weiß: ein samtiges, feuchtes, konvexes Schwarz füllt beide Augenhöhlen aus. Vogelaugen sind normalerweise rund, und diese sind mandelförmig wie Menschenaugen, aber es sind die Augen des Reihers.
»Willkommen«, sagt sie.
Dusty war mit einem Schlag so hellwach, dass er in dem Moment, als er die Augen öffnete, nicht erschrocken aufschrie oder sich erst aufsetzen musste, um sich zu orientieren. Er lag ganz still auf dem Rücken und starrte zur Decke.
Die Nachttischlampe brannte immer noch. Die Stehlampe war an ihrem Platz neben dem Lesesessel;
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