Stimmen der Angst
nicht fassungsloser sein können, wenn sie den eigenen Vater auf dem Band gesehen hätte, und es hätte sie weniger schockiert, wäre das, was ihr über die Schwelle folgte, ein dämonischer Inkubus mit Hörnern auf der Stirn und gelb funkelnden Katzenaugen gewesen. Doch hier kam, selbstbewusst und ohne Hörner, Ahriman und machte jeden Zweifel zunichte.
Attraktiv wie immer, gutaussehend wie ein Schauspieler, bot sein Gesicht die Spielfläche für einen Ausdruck, den Susan noch nie darin gesehen hatte. Nicht, wie man hätte erwarten können, animalische Lust, obwohl auch diese darin mitschwang. Keine Maske des Wahnsinns, obwohl seine fein gemeißelten Züge ein winziges bisschen verzerrt wirkten, als würden sie unter einem im Entstehen begriffenen inneren Druck kaum merklich aus den Fugen geraten. Während sie sein Gesicht aufmerksam musterte, erkannte sie mit einem Mal, was sich dann ausdrückte: Selbstgefälligkeit.
Nicht die strenge, verkniffene, schmaläugige Selbstgefälligkeit eines Moralapostels oder eines lustfeindlichen Saubermanns, der sich an seiner Askese berauschte und allen, die tranken, rauchten und gern üppig speisten, seine Verachtung entgegenschleuderte. Hier blickte ihr vielmehr die zynische Überheblichkeit eines Jugendlichen entgegen. Kaum hatte er den Fuß ins Schlafzimmer gesetzt, nahm Ahriman die lässige Haltung, den schlaksigen Gang und die anmaßende Miene eines Schuljungen an, für den alle Erwachsenen Idioten sind – und den funkelnden, heiß begierigen Blick, der die Not des pubertierenden Jungen verrät.
Der Verbrecher und der Psychiater, dessen Praxis sie zweimal wöchentlich aufsuchte, waren ein und dieselbe Person. Sie unterschieden sich lediglich in ihrem Auftreten. Und doch war dieser Unterschied so erschreckend, dass ihr Herz wie rasend zu hämmern begann.
Ihr ungläubiges Staunen wich einem so überwältigenden Gefühl der Wut und Enttäuschung über den Verrat, dass sie in einer Stimme, die nicht mehr ihr zu gehören schien, eine Flut unzusammenhängender Obszönitäten ausstieß wie ein Mensch, der unter dem Tourette-Syndrom leidet.
Der Arzt geht zum Sessel, wo er aus dem Bild verschwindet.
Er befiehlt ihr, auf allen vieren gekrochen zu kommen, was sie auch folgsam tut.
Sich diese Dokumentation ihrer eigenen Erniedrigung ansehen zu müssen ging fast über Susans Kräfte, aber sie drückte nicht auf Stopp, weil der Anblick ihre Wut noch stärker entfachte, und genau das brauchte sie in diesem Moment. Nachdem sie sich sechzehn Monate lang hilflos und schwach gefühlt hatte, gab ihr die Wut jetzt Kraft und Energie.
Sie spulte den Film bis zu der Stelle weiter, an der sie zusammen mit Ahriman wieder ins Bild kam. Sie waren jetzt beide nackt.
Mit steinerner Miene sah sie sich, zwischendurch immer wieder den Vorlauf betätigend, eine Reihe abscheulicher Szenen an, gelegentlich unterbrochen von ganz gewöhnlichem Sex, der im Vergleich dazu so unschuldig wirkte wie der ungeschickte Kuss eines jugendlichen Liebespaares.
Wie er es schaffte, sie so willenlos zu machen und derartig schockierende Erlebnisse aus ihrem Gedächtnis zu löschen – das war ein ebenso unergründliches Rätsel für sie wie die Frage nach der Entstehung des Alls und dem Sinn des Lebens. Sie hatte plötzlich das Gefühl, dass alles um sie herum unwirklich war, dass die Welt nicht das war, was sie zu sein schien, sondern vielmehr eine monumentale Bühnenkulisse, vor der die Menschen als Schauspieler agierten.
Der Schund, den sie jetzt auf dem Bildschirm sah, war jedoch real, so real wie die Flecken in der Unterhose, die sie auf dem Deckel des Wäschekorbs liegen gelassen hatte.
Ohne das Band anzuhalten, kehrte sie dem Fernseher den Rücken und ging zum Telefon. Sie wählte die ersten zwei Ziffern der Notrufnummer – nicht aber die letzte.
Wenn sie die Polizei rief, musste sie den Beamten auch die Tür öffnen und sie in die Wohnung lassen. Vielleicht verlangten sie sogar von ihr, sie zum Revier zu begleiten, um ihre Aussage dort zu Protokoll zu geben, oder sie brachten sie in ein Krankenhaus, wo man sie auf Spuren der Vergewaltigung hin untersuchen würde, um diese in einem späteren Verfahren als Indizienbeweis heranziehen zu können.
Fraglos würde sie tun, was notwendig war, würde alles tun, was man von ihr verlangte, so oft man es auch forderte. Sie würde alles tun, was sie tun musste, um diesen perversen Hurensohn Ahriman so lange wie nur irgend möglich hinter Gitter zu bringen.
Die
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