Stimmen der Angst
der hässlichen Wahrheit, deren Stachel herausschnellen würde, sobald der letzte Deckel geöffnet würde.
39. Kapitel
Das leise Rauschen der Brandung und dichter Nebel decken verschwörerisch seine Rückkehr.
Tau auf grauem Stein. Schnecke auf nasser Stufe. Achtlos zertreten.
Auf der Treppe flüsterte der Arzt leise in sein Mobiltelefon: »Der Wintersturmwind …«
»Der Sturmwind bist du«, antwortete Susan Jagger.
»… verbarg sich im Bambushain …«
»Der Hain bin ich.«
»… und dann war es still.«
»In der Stille werde ich erfahren, was getan werden muss.«
Auf dem Treppenabsatz vor der Eingangstür angekommen, sagte er: »Lass mich ein!«
»Ja.«
»Jetzt sofort«, sagte er, dann schaltete er das Telefon aus und steckte es in die Tasche.
Er warf einen besorgten Blick auf die menschenleere Uferpromenade.
Mit einem scharrenden, kratzenden Geräusch wurde der Stuhl, der unter dem Knauf der Küchentür eingeklemmt war, zurückgezogen. Das erste Sicherheitsschloss. Das zweite. Ein metallisches Klirren, als die Sicherheitskette zurückgeschoben wurde.
Susan empfing ihn unterwürfig wie eine Geisha, wortlos, aber mit einer artigen Verneigung, und Ahriman trat ein. Er wartete, bis sie die Tür wieder geschlossen und eines der Sicherheitsschlösser verriegelt hatte, dann befahl er ihr, ins Schlafzimmer vorauszugehen.
Auf dem Weg dorthin, durch die Küche, das Esszimmer, das Wohnzimmer und den kurzen Flur, redete er auf sie ein. »Ich glaube, du warst ein unartiges Mädchen, Susan. Ich weiß nicht, warum du mich hintergangen hast, wie du überhaupt auf eine solche Idee kommen konntest, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass du genau das getan hast.«
Bei seinem ersten Besuch in dieser Nacht hatte sie jedesmal, wenn sie den Blick von ihm abgewandt hatte, zu dem Bonsai hingesehen. Und jedesmal hatte Ahriman unmittelbar zuvor die Videoaufnahmen erwähnt, die er schon von ihr gemacht hatte oder bei seinem nächsten Besuch von ihr zu machen gedachte. Als ihm ihre Anspannung und Besorgnis aufgefallen war, hatte er sie aufgefordert, ihm den Grund ihrer Nervosität zu nennen, und als sie darauf einfach nur »Das Video« sagte, hatte er den nahe liegenden Schluss daraus gezogen. Nahe liegend und vermutlich falsch. Er hatte, fast zu spät, Verdacht geschöpft, weil sie immer nur zu dem Bonsai geschaut hatte: nicht auf den Fußboden, wie man es von einem schamgepeinigten Menschen hätte erwarten können, und auch nicht zum Bett, dem Schauplatz ihrer Erniedrigung, sondern immer nur zu der Pflanze.
Während er ihr jetzt ins Schlafzimmer folgte, sagte er: »Ich möchte sehen, was sich in der Pflanzenschale unter dem Efeu befindet.«
Pflichtschuldig begleitete sie ihn zu der Biedermeiersäule. Wie angewurzelt blieb er stehen, weil er plötzlich registriert hatte, was da über den Bildschirm lief.
»Der Teufel soll mich holen«, sagte er.
Mit ziemlicher Sicherheit hätte ihn der Teufel tatsächlich geholt, wäre ihm nicht in letzter Sekunde die Ursache seines Verdachts aufgegangen. Andernfalls wäre er schließlich nach Hause gefahren und hätte sich nichts ahnend ins Bett gelegt, ohne noch einmal hierher zurückzukehren.
»Komm her zu mir«, sagte er.
Als Susan zu ihm trat, ballte der Arzt die Hände. Am liebsten hätte er ihr die Fäuste mit aller Kraft in das hübsche Gesicht geschlagen.
Mädchen. Eines wie das andere.
Schon als Junge hatte er Mädchen als zu nichts nütze empfunden, hatte nichts mit ihnen zu tun haben wollen. Ihm wurde schlecht, wenn er an ihre hinterhältige, intrigante Art dachte. Das einzig Gute an ihnen war, dass er sie ohne viel Mühe zum Weinen bringen konnte – all diese herrlichen, salzigen Tränen –, aber dann rannten sie immer zu ihrer Mami oder ihrem Papi und verpetzten ihn. Er verstand es, sich gegen ihre hysterischen Anschuldigungen zu verteidigen; die meisten Erwachsenen fanden ihn wohlerzogen und somit überzeugend in dem, was er ihnen erzählte. Aber ihm war auch sehr bald klar geworden, dass er lernen musste, sich bedeckt zu halten und sich nicht von seiner Gier nach Tränen beherrschen zu lassen, wie so mancher in der Hollywood-Clique, mit der sein Vater beruflich zu tun hatte, von deren Vorliebe für Kokain.
Schließlich hatte er, ein Spielball seiner Hormone, herausgefunden, dass ihm die Mädchen noch mehr zu bieten hatten als ihre Tränen. Außerdem hatte er entdeckt, wie leicht es für einen hübschen Kerl wie ihn war, sie so zu manipulieren, dass sie ihm
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