Stimmen der Angst
Ahriman noch genügend Zeit, etwas zu Mittag zu essen. Obwohl die Wirkung der zweiten Valiumtablette bald einsetzen musste, war sich Martie nicht sicher, ob sie eine Dreiviertelstunde in einem – wenn auch noch so gemütlichen – Restaurant sitzen konnte, ohne eine Szene zu machen. Daher hielt Dusty nach einem Schnellimbiss mit Drive-by-Schalter Ausschau.
Er war kaum mehr als eine Meile gefahren, als Martie ihn bat, vor einer parkähnlichen Anlage mit einem ausgedehnten dreigeschossigen Wohnkomplex anzuhalten. Die Gebäude waren hinter einer Rasenfläche zurückgesetzt, die so grün und gepflegt aussah wie ein Golfplatz und von eleganten Pfefferbäumen, filigranen Teebäumen und hie und da einem hohen, in früher Blüte stehenden Jakarandabaum überschattet war. Die ganze Anlage machte einen sauberen, sicheren und soliden Eindruck.
»Nach dem Feuer musste hier fast die Hälfte des Komplexes wieder aufgebaut werden«, sagte Martie. »Sechzig Wohnungen waren damals niedergebrannt.«
»Wie lange ist das jetzt her?«
»Fünfzehn Jahre. Man hat auch die anderen Dächer erneuert, die durch den Brand nicht zerstört worden sind, weil sich die Flammen nur wegen den alten Zedernholzschindeln der Häuser so schnell verbreiten konnten.«
»Sieht eigentlich nicht wie ein Ort aus, auf dem ein Fluch lastet, was meinst du?«
»Wie man’s nimmt. Neun Menschen sind bei dem Brand ums Leben gekommen, darunter drei Kleinkinder. Komisch … wie hübsch und friedlich es aussieht, als wäre die Katastrophe nur ein böser Traum gewesen.«
»Ohne deinen Vater wäre alles noch viel schlimmer ausgegangen.«
Dusty kannte die Geschichte zwar in- und auswendig, aber Martie hatte offensichtlich das Bedürfnis, über das Feuer zu sprechen. Ihr war von ihrem Vater nichts als die Erinnerung geblieben, und indem sie darüber sprach, hielt sie diese Erinnerung in sich wach. »Beim Eintreffen der Feuerwehr herrschte schon das reinste Flammeninferno. Keine Chance, es schnell unter Kontrolle zu kriegen. Strahlebob ist vier Mal gegangen, vier Mal mitten rein in den Höllenschlund aus Rauch und Hitze, und jedes Mal hat er es geschafft. Er hat jedes Mal schrecklicher ausgesehen, aber immer ist er mit Leuten rausgekommen, die nicht überlebt hätten, wenn er sie nicht rausgetragen oder -geführt hätte. Eine ganze fünfköpfige Familie, die völlig orientierungslos war, blind vom Rauch, vom Feuer eingeschlossen, aber er hat es geschafft, er hat alle fünf in Sicherheit gebracht. Es hat außer ihm noch andere Helden gegeben, jeder einzelne in all den vielen Mannschaften, die man zum Brandort gerufen hatte, aber keiner hat so verbissen gekämpft wie er, er hat den Rauch geschluckt, als wär’s ein Leckerbissen, es war fast, als würde er sich in der Hitze so wohl wie in einer Sauna fühlen, wieder und immer wieder hat er sich da reingestürzt – aber so war er schon immer. Schon immer. Sechzehn Menschen hat er das Leben gerettet, bevor er zusammengebrochen ist und sie ihn mit dem Rettungswagen von hier weggebracht haben.«
In jener Nacht, als sie mit ihrer Mutter ins Krankenhaus gerast war, um an Strahlebobs Krankenlager zu eilen, hatte Martie geglaubt, vor Angst sterben zu müssen. Sein Gesicht war gerötet und mit Brandblasen überzogen. Und schwarz verschmiert: Der Ruß war durch die Gewalt einer Explosion so tief in die Poren gedrungen, dass er sich nicht einfach abwaschen ließ. Die Augen blutunterlaufen, eines fast völlig zugeschwollen. Brauen und Haare zum größten Teil weggesengt, im Nacken eine üble Verbrennung zweiten Grades. Die linke Hand und der linke Unterarm, durch herumfliegende Glassplitter zerschnitten, waren genäht und bandagiert worden. Und seine Stimme klang so beängstigend – so kratzig, rau und schwach wie noch nie zuvor. Pfeifend stieß er die Worte hervor und mit ihnen den säuerlichen Geruch von Rauch, mit dem sein Atem noch vermischt war, Rauchgestank, der unmittelbar aus seiner Lunge kam. Erst am Morgen hatte sich Martie, gerade einmal dreizehn, noch ungeheuer erwachsen gefühlt und sich ungeduldig gefragt, wann auch der Rest der Welt endlich begreifen würde, dass sie kein Kind mehr war. Aber dort im Krankenhaus, am Bett von Strahlebob, den es so schlimm erwischt hatte, kam sie sich plötzlich wieder so klein und hilflos vor wie eine Vierjährige.
»Er hat mit seiner unverletzten Rechten meine Hand genommen, und er war so schwach, dass er sie kaum halten konnte. Und dann sagt er mit dieser schrecklichen Stimme,
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