Stimmen der Angst
umgeschlagenen Manschetten und einen modisch geschnittenen Zweireiher von Vestimenta aus blauem Tuch an und vervollständigte das Bild mit einer gemusterten Krawatte und einem einfarbigen, aber dazu passenden Einstecktuch. Vom feinen Gespür seines Vaters für historische Filmstoffe hatte er gelernt, welch große Rolle ein gutes Kostüm spielt.
Der Vormittag war fast verstrichen. Er wollte mindestens zwei Stunden vor Dustin und Martie Rhodes in der Praxis sein, um im Geist noch einmal alle bisherigen Schachzüge durchzugehen und zu überlegen, wie es auf der nächsten Spielebene weitergehen sollte.
Im Aufzug, als er schon auf dem Weg zur Garage war, kam ihm flüchtig Susan Jagger in den Sinn, aber sie gehörte der Vergangenheit an. Das Gesicht, das er sich jetzt am leichtesten in Erinnerung rufen konnte, war das von Martie Rhodes.
Er würde es nie schaffen, ganze Menschenmassen zu Tränen zu rühren, wie es seinem Vater unzählige Male gelungen war. Aber man konnte auch Spaß daran haben, ein Einpersonenpublikum zum Weinen zu bringen. Auch dazu brauchte man Klugheit, Geschick und Können. Und eine Vision. Die eine Form der Unterhaltung war nicht weniger legitim als die andere.
Als sich die Aufzugtüren öffneten, fragte sich der Arzt gerade, ob Marties Tränendrüsen und -säcke ein größeres Volumen hatten als die seines Vaters.
46. Kapitel
Gescannt, geröntgt, skopiert, grafiert und zur Ader gelassen, musste Martie jetzt nur noch in einen kleinen Plastikbecher pinkeln, dann waren alle Tests gemacht und alle Proben gesammelt, und sie konnte das Krankenhaus verlassen. Wegen des Valiums war sie so ruhig, dass sie es wagen konnte, allein, ohne die für sie beide beschämende Begleitung von Dusty, zur Toilette zu gehen, obwohl er sich erboten hatte, ihr »Urinproben-Wächter« zu sein.
Sie war aber auch jetzt noch nicht sie selbst. Das Beruhigungsmittel hatte ihre irrationalen Ängste beileibe nicht ausgelöscht, sondern lediglich deren Flammen erstickt; die heiße Glut schwelte gefährlich weiter in den dunkleren Winkeln ihres Bewusstsein, jederzeit bereit, wieder zu einem alles verzehrenden Feuer aufzulodern.
Beim Händewaschen riskierte sie einen Blick in den Spiegel. Welch ein Fehler. Aus der Tiefe ihrer Augen funkelte ihr die »Andere Martie« entgegen, gebändigt zwar, aber voller Wut über die chemischen Fesseln, in denen sie lag.
Während sie die Seife abspülte, hielt sie den Blick wieder gesenkt.
Als sie sich mit Dusty auf den Weg zum Ausgang machte, war die Glut ihrer Angst bereits wieder entfacht.
Seit sie die erste Valiumtablette genommen hatte, waren erst drei Stunden vergangen, nicht gerade ein idealer Zeitabstand, um schon die nächste Dosis zu nehmen. Dennoch riss Dusty die zweite Probepackung auf und gab ihr die Tablette, die sie mit Wasser aus einer Trinkfontäne, die in der Eingangshalle stand, hinunterspülte.
Der quadratische Platz vor dem Gebäude war mittlerweile belebter als bei ihrer Ankunft. Eine leise Stimme in ihrem Innern, so leise wie ein in düsterer Seance beschworener Geist, flüsterte ihr unaufhörlich zu, wie verwundbar so mancher dieser Menschen um sie herum doch war. Der Mann mit dem Gipsbein dort, der auf Krücken ging, zum Beispiel, war leicht zu Fall zu bringen und hilflos, wenn er erst einmal am Boden lag, wehrlos gegen eine Stiefelspitze an der Kehle. Und jetzt fuhr eine Frau lächelnd in einem batteriegetriebenen Rollstuhl vorbei, den linken Arm schlaff und verkümmert im Schoß, die Rechte an der Steuerkonsole ihres Gefährts, das wehrloseste Opfer, das man sich nur denken konnte.
Martie konzentrierte sich auf den Boden vor sich und versuchte, die vorübergehenden Menschen aus ihrer Wahrnehmung zu tilgen, in der Hoffnung, auf diese Weise auch die verhasste innere Stimme zum Schweigen zu bringen, die ihr solche Angst machte. Sie vertraute darauf, dass sie mit Hilfe des Valiums und ihres Ehemanns ohne Zwischenfall zum Auto gelangen würde, und klammerte sich fest an Dustys Arm.
Bevor sie noch ihren Parkplatz erreicht hatten, frischte die Januarbrise auf und brachte einen Strom kalter Luft au nordwestlicher Richtung mit sich. Die großen Mandarinenhutbäume tuschelten verschwörerisch miteinander. Die huschenden, flimmernden Reflexe, die Sonnenlicht und Schatten auf den Windschutzscheiben der aneinander gereihten Fahrzeuge erzeugten, waren wie Alarmsignale in einer verschlüsselten Sprache, die sie nicht entziffern konnte.
Ihnen blieb vor ihrem Termin bei Dr.
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