Stimmen der Angst
schimmernden Tränen gefüllt, deutete sie auf die grotesk arrangierte Mädchenleiche im Bild.
Überrascht sagte Ahriman: »Das ist nur eine Fotografie.«
»Von einem wirklichen Menschen«, murmelte sie.
»Sie ist schon lange tot.«
»Sie hat einmal gelebt.«
Marties Tränendrüsen waren offensichtlich von ausgezeichneter Qualität. Ihre Tränensäcke entleerten sich in Tränenseen, die gleich darauf den Überflutungspegel erreichten, um dann mit den nächsten zwei Tropfen etwas von dem Elend aus ihren Augen zu schwemmen.
Der Anblick erinnerte Ahriman an die Träne, die Susan in der letzten Minute ihres Lebens herausgepresst hatte. Das Sterben war natürlich eine Ausnahmesituation, selbst wenn es ruhig, im Zustand vollkommener Selbstentfremdung vor sich ging. Martie war nicht im Begriff zu sterben. Und dennoch diese Tränen.
»Du kanntest das Mädchen doch nicht«, hakte der Arzt nach.
Ein kaum vernehmbares Flüstern. »Nein.«
»Vielleicht hat sie es verdient.«
»Nein.«
»Sie könnte eine jugendliche Prostituierte gewesen sein.«
Leise, tonlos: »Spielt keine Rolle.«
»Vielleicht war sie selbst eine Mörderin.«
»Sie ist ich.«
»Was soll das heißen?«, fragte er.
»Was soll das heißen?«, echote sie.
»Du hast gesagt, sie sei du. Erklär mir das.«
»Das kann man nicht erklären.«
»Dann ist es ohne Bedeutung.«
»Man kann es nur wissen.«
»Man kann es nur wissen«, wiederholte er gereizt. »Ja.«
»Soll das ein Rätsel sein, ein Zen-Koan vielleicht oder so etwas?«
»Soll es das?«
»Frauen«, stieß er ungeduldig hervor.
Martie schwieg.
Der Arzt klappte das Buch zu, betrachtete einen Moment lang ihr Gesicht im Profil und sagte dann: »Sieh mich an!«
Sie wandte ihm den Blick zu.
»Halt still«, sagte er. »Ich möchte davon kosten.«
Mit diesen Worten drückte er die Lippen erst auf das eine, dann auf das andere überfließende Auge. Dann noch ein kleines Spiel mit der Zunge.
»Salzig«, sagte er, »aber da ist noch etwas anderes. Etwas ganz Zartes, ein faszinierender Beigeschmack.«
Er musste noch einmal daran nippen. Eine REM-Phase bewirkte, dass ihr Augapfel auf für ihn erotische Weise unter seiner Zungenspitze vibrierte.
Ahriman rückte wieder ein Stück von ihr ab und sagte: »Herb, aber nicht bitter.«
Gesicht feuchtschimmernd. Im Auge das Leid der Welt. Und doch strahlend schön.
Drei viel versprechende Zeilen, die es wert sein mochten, dass er sie zu Papier brachte. Der Arzt speicherte das Haiku im Geist, um es später noch auszufeilen.
Als hätte die Hitze seiner Lippen ihre Tränendrüsen ausgetrocknet, waren Marties Tränen wieder versiegt.
»Ich werde mehr Spaß mit dir haben, als ich dachte«, sagte Ahriman. »Es wird einige Raffinesse erfordern, aber die Mühe wird sich bestimmt lohnen. Wie bei jedem guten Spielzeug ist deine Form – dein Geist und dein Herz – in ihrer künstlerischen Vollendung mindestens ebenso faszinierend wie deine Funktion. Nun möchte ich, dass du völlig ruhig, distanziert, aufmerksam und gehorsam bist.«
»Ich verstehe.«
Er schlug das Buch wieder auf.
Unter der geduldigen Anleitung des Arztes studierte sie, tränenlos diesmal, das Tatortfoto des verstümmelten Mädchens, dessen Gliedmaßen der Mörder auf fantasievolle Weise neu arrangiert hatte. Ahriman befahl ihr, sich vorzustellen, wie es wäre, wenn sie selbst eine solche Gräueltat begehen würde, sich an der abscheulichen, blutigen Wirklichkeit dessen, was sie hier auf diesem Hochglanzfoto sah, zu weiden. Um sicherzugehen, dass Martie bei dieser Übung mit allen ihren fünf Sinnen bei der Sache war, versorgte er sie, gestützt auf sein medizinisches Wissen, seine persönliche Erfahrung und seine gut ausgebildete Fantasie, mit vielerlei Einzelheiten über Farbe, stoffliche Konsistenz und Gerüche.
Dann weiter zu den nächsten Seiten. Zu anderen Bildern. Frische Leichen, aber auch menschliche Körper in den verschiedensten Stadien der Verwesung.
Blinzeln.
Blinzeln.
Schließlich stellte er die beiden schweren Bände ins Bücherregal zurück.
Weil es ihm beträchtliche Befriedigung bereitet hatte, ihr Gefallen am Tod zu vermitteln, hatte er sich eine Viertelstunde über die vorgesehene Zeit mit Martie beschäftigt. Manchmal dachte der Arzt, dass er auch ein ausgezeichneter Lehrer geworden wäre, mit Tweedanzug, Hosenträgern, Fliege und allem Drum und Dran; dass ihm die Arbeit mit Kindern Spaß gemacht hätte, stand fraglos fest.
Er befahl Martie, sich auf den
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