Stimmen der Angst
deren Hilfe man Verletzungen, Wunden und krankhafte Veränderungen des menschlichen Körpers erkennen und interpretieren konnte. Die Gerichtspathologie war für Dr. Ahriman als Mediziner deshalb von Interesse, weil er entschlossen war, an den organischen Trümmerruinen, die bei seinen Spielen zurückblieben, keine Spuren zu hinterlassen, die dazu führen konnten, dass er von seinem Herrensitz in eine Zelle übersiedeln musste, gleichgültig, ob mit gepolsterten Wänden oder nicht.
G EHEN S IE IN DAS G EFÄNGNIS , GEHEN S IE DIREKT DORTHIN
war eine Karte; die er nicht zu ziehen gedachte. Schließlich gab es in seinem Spiel, anders als beim Monopoly, keine S IE -
KOMMEN - AUS - DEM -G EFÄNGNIS - FREI -Karte.
Beim zweiten Werk handelte es sich um eine Gesamtdarstellung der kriminalistischen Methoden, Vorgehensweisen und technischen Verfahren, die in Mordfällen bei der polizeilichen Ermittlungsarbeit angewendet wurden. Der Arzt hatte es unter dem Gesichtspunkt erworben, dass ein Spieler es nur dann zur Meisterschaft bringen konnte, wenn er die Strategien seines Gegners kannte und somit durchschaute.
Beide Bücher waren Galerien, in denen die düsteren Kunstwerke des Todes ausgestellt wurden. Das Lehrbuch der Gerichtspathologie enthielt markerschütternde Bilder des Grauens in allen seinen Erscheinungsformen. Das kriminalistische Werk hingegen zeigte eine größere Zahl von Aufnahmen, die von Mordopfern direkt am Tatort gemacht worden waren, weshalb sie einen Reiz ausstrahlten, der den Fotos aus den Leichenschauhäusern manchmal fehlte, so wie auch ein Schlachthaus optisch interessanter ist als die Ladentheke eines Metzgers. Guggenheim-Museen der Gräuel, Louvres der Gewalt, Ausstellungen des menschlichen Elends und der Grausamkeit, verständlich und leichter zugänglich gemacht durch Quellenverzeichnisse und erklärende Texte zu den Exponaten.
Unterwürfig, mit leicht geöffnetem Mund und großen Augen, saß sie da. Ein leeres Gefäß, das darauf wartete, gefüllt zu werden.
»Du bist sehr hübsch«, sagte Ahriman zu ihr. »Ich muss gestehen, Martie, dass ich, von Susans Schein geblendet, deine Schönheit bislang zu wenig gewürdigt habe. Das ist jetzt anders.«
Wenn die Würze des Leidens hinzukam, würde ihr dies eine unvergleichlich erotische Anziehung verleihen.
Nun war es Zeit für das kriminalistische Lehrbuch. Er schlug eine Seite auf, die mit einem rosafarbenen Merkzettel markiert war.
Ahriman breitete das Buch vor Martie aus und lenkte ihren Blick auf das Foto eines Toten, der auf dem Rücken ausgestreckt auf einem Dielenboden lag. Die nackte Leiche war mit sechsunddreißig Stichen grauenvoll zugerichtet. Der Arzt sorgte dafür, dass Martie ihr Augenmerk besonders darauf richtete, welch überaus fantasievolle Verwendung der Mörder für die Genitalien des Opfers gefunden hatte.
»Und hier, der Schienennagel in der Stirn«, sagte Ahriman. »Stahl, fünfundzwanzig Zentimeter lang, mit einem Kopf von drei Zentimetern Durchmesser, aber man sieht nicht viel von dem Nagel, weil er durch den Schädel in den Eichenfußboden gehämmert wurde. Zweifellos eine Anspielung auf die Kreuzigung – die festgenagelten Hände und die Dornenkrone in einem einzigen starken Bild vereint. Präg es dir ein, Martie. Jedes herrliche Detail.«
Sie betrachtete die Fotografie konzentriert, wie er es ihr befohlen hatte, und ließ den Blick von Wunde zu Wunde wandern.
»Das Mordopfer war ein Priester«, ließ sie der Arzt wissen. »Wahrscheinlich fand der Mörder den Eichenfußboden unpassend, aber bis jetzt ist noch kein Fabrikant für Bauzubehör auf die Idee gekommen, Nut- und Federholz aus Blutweide auf den Markt zu bringen.«
Blaue Bewegung. Blaue Ruhe. Ein vereinzeltes Zwinkern. Das Bild war jetzt eingegeben und gespeichert.
Ahriman blätterte zur nächsten Seite weiter.
*
Dusty hatte damit gerechnet, dass es ihm in seiner Sorge um Martie nicht gelingen würde, sich auf den Roman zu konzentrieren. Aber die Ruhe, die sich beim Eintreten in Dr. Ahrimans Praxis in ihm ausgebreitet hatte, hielt an, und die Geschichte zog ihn wider Erwarten schnell in ihren Bann.
Die Handlung war spannend, die Figuren waren lebendig geschildert, genau, wie es Martie in diesem eigenartig hölzernen Tonfall, wie auswendig gelernt, beschrieben hatte. Dass sie es trotz dieser offensichtlichen Qualitäten des Buchs nicht geschafft hatte, es in den langen Wartezeiten während Susans Therapiesitzungen zu Ende zu lesen oder auch nur
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