Stimmen der Angst
so erbittert gegen die Schublade, weil sie diese sonst womöglich aufgerissen hätte, um die Schere herauszunehmen – und in Ermangelung eines anderen Opfers hätte sie sich selbst mit den scharfen Schneiden vielleicht schreckliche Wunden zugefügt.
»Bist du noch da, Martie?«
Klick-klick.
»Martie, was soll ich bloß tun?«
»Susan, das ist eine verdammte Scheiße, es ist eine ganz und gar unheimliche Geschichte.« Marties Stimme zitterte, vor Mitleid und Sorge um ihre Freundin, aber auch, weil sie Angst um sich selbst und vor sich selbst hatte. Sie war so durchnässt von kaltem, salzigem Schweiß, als hätte sie ein Bad im Meer genommen. Klick-klick. Der Arm, die Schulter und der Hals schmerzten sie dermaßen, dass es ihr die Tränen in die Augen trieb. »Also, pass auf, ich muss erst mal meine Gedanken ein bisschen sortieren, bevor ich dir einen Rat geben kann, bevor ich weiß, wie ich dir helfen kann.«
»Es ist die reine Wahrheit.«
»Das weiß ich, Susan.«
Sie musste unbedingt vom Telefon wegkommen! Weg von der Schublade, weg von der Schere, die darin lauerte, denn vor der Gewalttätigkeit, die in ihr selbst steckte, konnte sie nicht fliehen.
»Das alles passiert wirklich«, sagte Susan unnachgiebig.
»Ich weiß. Du hast mich überzeugt. Darum will ich ja erst mal nachdenken. Eben weil es so absurd ist. Wir müssen vorsichtig sein, sichergehen, dass wir das Richtige tun.«
»Ich habe Angst. Ich fühle mich so allein.«
»Du bist nicht allein«, sagte Martie, um ihre Freundin zu beruhigen, aber in ihrem Ton war jetzt nicht mehr nur ein leises Zittern zu vernehmen, sondern geradezu eine Erschütterung, unter der ihr die Stimme ganz zu versagen drohte. »Ich lasse dich nicht allein. Ich rufe dich zurück.«
»Martie …«
»Ich denke darüber nach, überlege …«
»… wenn etwas passiert …«
»… werde mir klar darüber, was das Beste ist …«
»… wenn mir etwas passiert …«
»… und ich rufe dich zurück …«
»… Martie …«
»… rufe dich bald zurück.«
Sie hängte den Hörer des Wandtelefons ein, konnte ihn aber nicht gleich loslassen, so krampfhaft hielt sie ihn umklammert. Als es ihr endlich gelang, sich loszureißen, blieb die Hand gekrümmt, als hielte sie darin immer noch einen Telefonhörer.
Als Martie die andere Hand von der Schublade zurückzog, fluteten schmerzhafte Krämpfe wie Wellen durch ihren Arm. Der Schubladengriff hatte in den weichen Ballen unterhalb der Finger einen Abdruck gebildet wie in einer Tonform, und die rote Kerbe in der Haut tat so weh, als hätte sich der Abdruck bis in die Mittelhandknochen gebohrt.
Sie wich von der Schublade zurück, bis sie mit dem Rücken gegen den Kühlschrank stieß, in dessen Innern Flaschen leise klirrend aneinander stießen.
Eine davon, das wusste sie, war eine noch halb volle Flasche Chardonnay, die vom Abendessen des Vortags übrig war. Eine Weinflasche ist dickwandig, besonders der Boden mit seiner konkaven Einbuchtung, in der sich der Weinstein ablagert. Schwer. Stumpf. Wirkungsvoll. Sie konnte sie wie eine Keule schwingen, jemandem den Schädel damit einschlagen.
Eine zerbrochene Weinflasche erst konnte eine besonders vernichtende Waffe sein. Man fasste sie am Hals, stieß mit den scharfen Scherbenrändern zu. Zerfetzte einem ahnungslosen Menschen das Gesicht damit, rammte sie ihm in die Kehle.
Wuchtig zugeschlagene Türen hätten kein größeres Getöse machen können als das Hämmern der Herzschläge, die in ihrer Brust widerhallten.
23. Kapitel
»Urin lügt nicht«, sagte Dr. Donklin.
Auf seinem Wachposten neben der Tür hob Valet den Kopf und zuckte wie zustimmend mit den Ohren.
Skeet, der jetzt an einen Elektrokardiographen angeschlossen war, schlief immer noch so tief, als hätte man ihn in ein künstliches Koma versetzt.
Dusty beobachtete die Zackenlinie des grünen Lichtpunkts, der die Herzströme auf dem Monitor anzeigte. Es wurden keinerlei Rhythmusstörungen gemessen; die Herzfrequenz seines Bruders war zwar niedrig, aber regelmäßig.
Die New-Life-Klinik war weder auf die Behandlung physischer Erkrankungen noch auf weitreichende diagnostische Untersuchungen ausgerichtet, aber sie war im Hinblick auf den Erfindungsreichtum und die selbstzerstörerischen Neigungen der hiesigen Patienten mit den modernsten Geräten ausgestattet, die es brauchte, um innerhalb kurzer Zeit das Vorhandensein von Drogen in den Körperflüssigkeiten nachzuweisen.
Die Bluttests, die bei Skeets Aufnahme vorgenommen
Weitere Kostenlose Bücher