Stimmen der Angst
getan hatte.
Sie war im Begriff, die nächste Schublade zu öffnen, als das Telefon klingelte. »Dusty?«, rief sie mit hoffnungsvoller Stimme in die Sprechmuschel.
»Ich bin es«, sagte Susan Jagger.
»Oh.« Martie sank das Herz. Sie war bemüht, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Hallo, was gibt’s?«
»Ist mit dir alles in Ordnung, Martie?«
»Ja, klar.«
»Du klingst aber so komisch.«
»Mir geht es gut.«
»Du klingst, als wärest du außer Atem.«
»Ich habe gerade ein paar anstrengende Gymnastikübungen gemacht.«
»Irgendetwas ist los mit dir.«
»Nichts ist mit mir los. Hör auf, mich zu löchern, Susan. Dafür habe ich eine Mutter. Was gibt es?«
Martie wollte vom Telefon weg. Sie hatte noch so viel zu tun. So viele Schubladen und Schrankfächer, die noch nicht durchsucht waren. Und auch in den anderen Räumen gab es gefährliche Objekte, potenzielle Waffen. Das ganze Haus war voll von todbringenden Gegenständen, und sie musste sie alle finden, musste auch den letzten dieser Gegenstände entfernen.
»Es ist mir ein bisschen peinlich«, sagte Susan.
»Was ist dir peinlich?«
»Ich bin nicht paranoid, Martie.«
»Das weiß ich.«
»Er kommt aber wirklich manchmal hierher, nachts, wenn ich schlafe.«
»Eric.«
»Es kann nur Eric sein. Klar, ich weiß, dass er keinen Schlüssel hat und die Türen und Fenster verschlossen sind, dass es keine Möglichkeit gibt, in die Wohnung zu kommen … Aber es kann nur er sein.«
Martie öffnete eine Schublade in der Nähe des Telefons. Sie enthielt unter anderem die Schere, die sie nicht hatte anfassen können, als es darum ging, das Klebeband für den Messerkarton abzuschneiden.
»Du hast mich vorhin gefragt«, fuhr Susan fort, »woran ich merke, dass er da war, ob Gegenstände verschoben sind, ob ich sein Rasierwasser rieche oder so.«
Die Griffe der Schere waren mit schwarzem Gummi überzogen, damit sie sicherer in der Hand lag.
»Aber es ist viel schlimmer als Rasierwasser, Martie, es ist unheimlich … und peinlich.«
Die Außenseiten der stählernen Klingen waren glänzend poliert wie Spiegel, die inneren Schneiden waren matt gebürstete Flächen.
»Martie?«
»Ja, ich höre dir zu.« Martie presste den Hörer so fest an den Kopf, dass ihr das Ohr wehtat. »Erzähl mir, was unheimlich ist.«
»Ich weiß, dass er hier war, weil er sein … sein Zeug zurücklässt.«
Die eine Schneide war scharf und glatt. Die andere hatte einen gezackten Rand. Beide waren gefährlich spitz.
Martie musste sich anstrengen, um der Unterhaltung zu folgen, weil vor ihrem inneren Auge plötzlich grelle Bilder einer Schere aufblitzten, die durch die Luft sauste und unablässig fetzend, reißend, durchbohrend zustach. »Sein Zeug?«
»Du weißt schon.«
»Nein.«
»Sein Zeug.«
»Was für ein Zeug?«
In eine Klinge, knapp oberhalb des Schraubscharniers, war das Wort Klick eingraviert, wahrscheinlich der Name des Herstellers, aber in Martie fand das Wort einen eigenartigen Widerhall, so, als wäre es eine Zauberformel, der eine magische Kraft innewohnte, geheimnisvoll und bedeutungsschwanger.
»Sein Zeug, sein … seinen Samen«, sagte Susan.
Einen Moment lang ergab das Wort Samen keinen Sinn für Martie, sie fand keinen Bezug dazu, konnte es nicht verarbeiten, es war wie ein dadaistisches Wort, erfunden von jemandem, der in fremden Zungen sprach. Sie war in Gedanken so mit der Schere beschäftigt, die vor ihr in der Schublade lag, dass sie sich nicht auf Susan konzentrieren konnte.
»Martie?«
»Samen«, wiederholte Martie, indem sie die Augen schloss und sich krampfhaft bemühte, den Gedanken an die Schere aus ihrem Kopf zu verdrängen und sich auf das Gespräch zu konzentrieren.
»Sperma«, fügte Susan erklärend hinzu.
»Sein Zeug.«
»Ja.«
»Daran hast du gemerkt, dass er da war?«
»Es klingt unmöglich, aber es ist so.«
»Sperma.«
»Ja.«
Klick .
Scherengeklapper: klick-klick . Martie berührte die Schere nicht. Auch mit geschlossenen Augen wusste sie, dass die Schere immer noch unangetastet in der Schublade lag, weil sie nirgendwo sonst sein konnte. Klick-klick.
»Ich habe Angst, Martie.«
Ich auch. Großer Gott, ich auch.
Mit der linken Hand hielt Martie den Hörer umklammert, ihre Rechte hing leer herunter. Die Schere konnte sich nicht aus eigener Kraft bewegen – und dennoch: klick-klick .
»Ich habe Angst«, sagte Susan noch einmal.
Wäre Martie nicht so besessen gewesen von ihrer eigenen Angst und hätte sie
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