Stimmen der Angst
bezeichnet, hatte jedoch keine nachvollziehbare Erklärung dafür geliefert, auf welches Verhalten, welchen Vorgang, welchen Sport oder welches Spiel sich diese seltsamen Regeln bezogen.
Dusty überlegte kurz, ob er sich zu seinem Bruder auf die Bettkante setzen und ihm weitere Fragen stellen sollte. Aber er befürchtete, dass Skeet sich unter einem solchen Druck wieder in seinen totenähnlichen Zustand zurückzog, aus dem er diesmal vielleicht nicht so ohne weiteres wieder aufwachen würde.
Abgesehen davon, hatten sie beide einen anstrengenden Tag hinter sich. Trotz seines Schlafs und trotz des stärkenden Abendessens war Skeet vermutlich kaum weniger erschöpft als Dusty, der sich fühlte, als hätte man ihn durch die Mangel gedreht.
*
Schaufel.
Pickel.
Beil.
Hämmer, Schraubenzieher, Sägen, Bohrer, Beißzangen und Rohrzangen, lange Stahlnägel in Massen.
Obwohl auch die Küche noch längst kein vollkommen sicherer Ort war und die anderen Räume im Haus noch inspiziert und von Gefahren befreit werden mussten, konnte Martie nicht aufhören, an die Garage zu denken und im Geist eine Bestandsaufnahme der unzähligen Folter- und Mordinstrumente zu machen, die dort aufbewahrt wurden.
Schließlich hielt sie es nicht mehr aus, und entgegen ihrem Entschluss, die Garage zu meiden, damit sie nicht Gefahr lief, dort zwischen all den spitzen und scharfkantigen Versuchungen zu lauern, wenn Dusty nach Hause kam, öffnete sie die Verbindungstür, tastete nach dem Schalter und knipste die in die Decke eingelassenen Neonfluter an.
Als sie über die Schwelle trat, fiel ihr Blick als Erstes auf das Wandpaneel mit den Haken, an denen eine Sammlung von Gartengeräten hingen, die sie bei ihrer Bestandsaufnahme vergessen hatte. Pflanzkellen. Eine Blechschere. Eine kleine Grabschaufel. Ein Rasentrimmer mit Federmechanismus und teflonbeschichteten Klingen. Eine batteriebetriebene Heckenschere.
Eine Hippe zum Zurückschneiden von Ästen.
*
Geräuschvoll kratzte Skeet die letzten Reste der zuckerbestreuten Schlagsahne aus seiner Dessertschale.
Als wäre das Klappern des Löffels in der Porzellanschüssel ihr Stichwort, erschien die Schwester, die bei Skeet Nachtwache halten sollte, in der Tür: Jasmine Hernandez, klein, zierlich, hübsch, Anfang dreißig – Augen bläulichschwarz wie Pflaumenschalen, unergründlich, aber mit klarem Blick. In ihrer weißen Schwesterntracht wirkte sie ebenso munter und forsch wie tüchtig und korrekt – obwohl ihre roten Turnschuhe mit den grünen Schnürsenkeln eine gewisse Verspieltheit ahnen ließen – nicht zu Unrecht, wie sich herausstellen sollte.
»Na, Sie sind ja nur eine halbe Portion«, sagte Skeet und zwinkerte Dusty dabei zu. »Wenn ich vorhätte, mich umzubringen, Jasmine, könnten Sie mich wohl kaum daran hindern.«
Während sie das Tablett vom Bett nahm und auf die Kommode stellte, entgegnete die Schwester: »Hören Sie mal, mein kleiner chupaflor , wenn ich Ihnen alle Knochen im Leib brechen und Sie in einen Ganzkörpergips stecken muss, damit Sie sich nichts antun, habe ich damit kein Problem.«
»Ach du liebe Scheiße«, rief Skeet aus, »wo haben Sie Ihre Schwesternausbildung gemacht – in Transsilvanien?«
»Viel schlimmer. Ich habe bei den Barmherzigen Schwestern gelernt. Und ich warne Sie, chupaflor – während ich Dienst habe, wird nicht geflucht.«
»Tut mir Leid«, sagte Skeet kleinlaut, obwohl ihm der Schalk immer noch aus den Augen blitzte. »Was ist, wenn ich Pipi muss?«
Jasmine kraulte Valet hinter den Ohren und sagte zu Skeet:
»Ich kann Ihnen versichern, dass Sie nichts haben, was ich nicht schon einmal gesehen habe. Und mit Sicherheit habe ich schon größere gesehen.«
Dusty lächelte Skeet zu. »Du tust wahrscheinlich gut daran, wenn du ab jetzt nur noch mit ›Ja, Ma’am‹ antwortest.«
»Was bedeutet eigentlich chupaflor ?«, wollte Skeet wissen.
»Am Ende ist es ein Schimpfwort, und ich merke es nicht einmal.«
» Chupaflor heißt Kolibri«, sagte Jasmine Hernandez, während sie Skeet ein digitales Fieberthermometer in den Mund schob.
»Sie nennen mich Kolibri?«, murmelte Skeet undeutlich zwischen den Zähnen.
» Chupaflor «, sagte sie nickend. Da Skeet nicht mehr an das EKG-Gerät angeschlossen war, hob sie sein knochiges Handgelenk, um den Puls zu messen.
Plötzlich beschlich Dusty wieder ein kaltes, drückendes Unbehagen, dessen Ursache er nicht ergründen konnte, auch wenn das Gefühl nicht ganz neu für ihn war. Es war
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