Stimmen der Angst
dasselbe, nicht greifbare Misstrauen, das ihn vor einer Weile veranlasst hatte, Skeet im Spiegel des nächtlichen Fensters zu beobachten.
Irgendetwas stimmte hier nicht. Das Problem lag nicht unbedingt bei Skeet, vielmehr richtete sich sein Misstrauen gegen diesen Ort, gegen die Klinik.
»Kolibris sind aber süße Tierchen«, sagte Skeet zu Jasmine Hernandez.
»Behalten Sie das Thermometer unter der Zunge«, entgegnete sie im Befehlston.
Er ließ nicht locker. »Finden Sie mich denn auch süß?«, fragte er nuschelnd, da ihn das Thermometer behinderte. »Sie sind ein hübscher Kerl«, sagte sie, als könnte sie Skeet so wahrnehmen, wie er einmal ausgesehen hatte – blühend, mit rosigen Wangen und leuchtenden Augen.
»Kolibris sind beneidenswert. Sie sind freie Geschöpfe.« Ohne den Blick von ihrer Armbanduhr zu heben und das Zählen zu unterbrechen, sagte die Schwester: »Ja, genau, der
chupaflor ist ein süßes, beneidenswertes und freies kleines Nichts von einem Vogel.«
Skeet warf seinem Bruder einen Blick zu und verdrehte die Augen.
Sofern mit diesem Moment, diesem Ort und den Menschen hier irgendetwas nicht stimmte, konnte Dusty nicht benennen, was es war. Selbst dem unehelichen Sohn aus einer Verbindung zwischen Sherlock Holmes und Miss Marple wäre es schwer gefallen, einen Grund für das Misstrauen zu finden, das an Dustys Nerven zerrte. Wahrscheinlich rührte seine Nervosität von seiner Müdigkeit und der Sorge um Skeet her; er konnte sich auf seine Gefühle nicht mehr verlassen, solange sein Bruder in diesem Zustand war.
Als Antwort auf Skeets Grimasse sagte er: »Ich hab dich gewarnt. Zwei Worte. Ja, Ma’am. Mit Ja, Ma’am kannst du nichts falsch machen.«
In dem Augenblick, als Jasmine Skeets Handgelenk losließ, piepste das digitale Thermometer. Sie nahm es ihm aus dem Mund.
Dusty trat ans Bett und sagte: »Ich muss dich jetzt verlassen, Kleiner. Ich habe Martie versprochen, mit ihr essen zu gehen, und ich bin schon spät dran.«
»Deine Versprechen an Martie musst du halten. Sie ist ein Schatz.«
»Wem sagst du das? Habe ich sie nicht geheiratet?«
»Ich hoffe, sie hasst mich nicht«, sagte Skeet.
»He, sei nicht albern.«
In Skeets Augen glänzten mühsam zurückgehaltene Tränen.
»Ich habe sie nämlich ziemlich gern, Dusty. Martie ist immer so nett zu mir.«
»Sie hat dich auch gern, Bruderherz.«
»Da befindet sie sich in einem kleinen Kreis – dem Club der Leute, die Skeet lieben. Der Club der Leute, die Martie lieben, ist da etwas ganz anderes – da könntest du die Rotarier, die Kiwanis und die Lions zusammennehmen.«
Dusty fiel keine tröstliche Entgegnung ein, weil Skeet mit seiner Bemerkung eindeutig den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.
Aus seinen Worten sprach jedoch kein Selbstmitleid. »Glaub mir, das ist eine Last, die ich nicht tragen möchte. Wenn einen die Leute lieben, setzen sie Erwartungen in einen, und man ist ihnen irgendwie verpflichtet. Je mehr sie einen lieben … na ja, es ist ein ewiger Kreislauf.«
»Die Liebe ist eine schwierige Angelegenheit, was?«
»So ist es«, sagte Skeet und nickte. »Geh du nur, geh gut essen mit Martie, trink ein Glas Wein mit ihr und sag ihr, wie schön sie ist!«
»Wir sehen uns morgen«, versprach Dusty, indem er die Hundeleine nahm und an Valets Halsband befestigte. »Du findest mich hier«, sagte Skeet. »Ich bin derjenige, der vom Hals abwärts in einem Gipsverband steckt.«
Als Dusty mit Valet das Krankenzimmer verließ, trat Jasmine mit einem Blutdruckmesser an Skeets Bett. »Ich muss jetzt Ihren Blutdruck messen, chupaflor .«
»Ja, Ma’am«, sagte Skeet.
Wieder dieses unerklärliche Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Nur nicht beachten. Die Müdigkeit. Alles Einbildung.
Nichts, was ein Glas Wein und ein tiefer Blick in Marties Augen nicht kurieren konnte.
Auf dem Weg zum Aufzug machten Valets Klauen klickende Geräusche auf dem PVC-Fußboden des Korridors.
Schwestern und Pflegerinnen lächelten beim Anblick des Retrievers. »Hallo, Kleiner!« – »Was für ein schöner Hund!«
»Bist du aber ein Hübscher!«
Im Aufzug machten Dusty und Valet die Bekanntschaft eines Pflegers, der genau zu wissen schien, an welchem Punkt zwischen den Ohren man einen Hund kraulen musste, damit dessen Augen jenen träumerisch umflorten Ausdruck annahmen. »Ich hatte auch mal einen Golden Retriever. Eine wunderbare Hündin namens Sassy. Sie hatte Krebs, und ich musste sie letzten Monat einschläfern lassen.«
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