Stimmen der Angst
Bei dem Wort einschlä fern stockte ihm einen Moment lang die Stimme. »Sie war nicht dazu zu kriegen, eine Frisbeescheibe zu apportieren, aber Tennisbällen konnte sie den ganzen Tag nachjagen.«
»Er ist genauso«, sagte Dusty. »Er gibt den ersten Ball nie her, wenn man einen zweiten wirft. Bringt sie dann beide zurück und sieht dabei aus, als hätte er Mumps. Wollen Sie wieder einen Hund?«
»In nächster Zeit sicher nicht«, erwiderte der Pfleger und meinte damit wohl: erst dann wieder, wenn der Schmerz über Sassys Tod nicht mehr ganz so groß ist wie jetzt.
Im Aufenthaltsraum neben der Rezeption im Erdgeschoss saßen ein Dutzend Patienten in Vierergruppen an Tischen und spielten Karten. Das Stimmengewirr ihrer Unterhaltung, ihr unbeschwertes Lachen, das typische Geräusch des Kartenmischens und die weichen Swingklänge eines alten Glen-MillerStücks, das im Hintergrund aus einem Radio drang, schufen eine derart behagliche Atmosphäre, dass man meinen konnte, hier hätten sich ein paar Freunde zu einem geselligen Abend in ihrem Clubhaus, im Gemeindesaal der Kirche oder im heimischen Wohnzimmer versammelt und nicht ein trostloser Haufen physisch angeschlagener und psychisch labiler Crackraucher, Kokser, Speedschlucker, Drücker, Kaktusfresser, Kiffer und Polytoximane aus gutem Hause, deren Venen so durchlöchert waren wie Schweizer Käse.
An einem Pult neben dem Eingang saß ein Wachposten, der dafür zu sorgen hatte, dass die Angehörigen und das zuständige Gericht den Vorschriften gemäß benachrichtigt wurden, sollte ein unbelehrbarer Patient darauf bestehen, sich selbst vorzeitig aus der Klinik zu entlassen.
Der Wachposten, der im Moment Dienst tat, war ein Mann um die fünfzig, der in Khakihosen, ein hellblaues Hemd mit roter Krawatte und ein marineblaues Jackett gekleidet war.
Sein Namensschildchen wies ihn als WALLY CLARK aus. Er las gerade in einem Liebesroman. Mit seinem pausbäckigen, sommersprossigen Gesicht, dem dezenten Geruch nach Old Spice, den ernsten, gutmütigen blauen Pastorenaugen und einem Lächeln, das gerade so mild war wie ein nicht allzu trockener, aber auch nicht zu süßer Wein, hätte jeder Besetzungschef in Hollywood ihn von der Stelle weg als den Lieblingsonkel, Seelentröster, einfühlsamen Lehrer, väterlichen Freund oder Schutzengel des Stars engagiert.
»Ich habe schon hier gearbeitet, als Ihr Bruder das letzte Mal bei uns war«, sagte Wally und beugte sich dabei herunter, um Valet zu streicheln. »Ich hätte nicht gedacht, ihn mal wiederzusehen. Schade drum. Er ist ein guter Junge.«
»Vielen Dank.«
»Er ist immer auf eine Runde Backgammon zu mir runtergekommen. Aber machen Sie sich keine Sorgen um Ihren Bruder, Mr. Rhodes. Im Grunde hat er das Herz auf dem rechten Fleck.
Diesmal wird er clean hier rausgehen und clean bleiben.« Die Abendluft war kühl und feucht, was aber nicht unangenehm war. Das flauschige Wolkengespinst löste sich ein wenig und gab einen kurzen Blick auf den still am Himmelssee dahinsegelnden Mond frei, bevor es sich wieder zusammenzog. Auf dem Parkplatz standen noch ein paar seichte Regenpfützen, und Valet zog an seiner Leine, bis sie straff gespannt war, um ja keine auszulassen.
Am Lieferwagen angekommen, warf Dusty einen Blick auf das haziendaartige Klinikgebäude zurück. Die Palmen summten leise ihre Wiegenlieder in der schläfrigen Brise, die Bougainvilleen wanden sich träge um die Säulen der Balkone und breiteten sich in weichen Falten wie Bettdecken über den Bogendächern aus – hier hätte Morpheus, der griechische Gott der Träume, wohnen können.
Und doch gelang es Dusty nicht, das hartnäckige Gefühl abzuschütteln, dass hinter dieser malerischen Fassade eine andere, dunklere Wirklichkeit lauerte: eine unermüdliche Geschäftigkeit, ein heimliches Huschen und Tun, ein Nest, ein unterirdischer Bau, in dem eine zombiehafte Kolonie nach irgendeinem abscheulichen Plan ihre Fron verrichtete. Tom Wong, Dr. Donklin, Jasmine Hernandez, Wally Clark und alle anderen Klinikangestellten machten einen klugen, tüchtigen, engagierten und einfühlsamen Eindruck. Nichts an ihrem Verhalten gab Dusty auch nur den geringsten Anlass, an ihren guten Absichten zu zweifeln.
Vielleicht rührte seine Irritation daher, dass sie einfach zu perfekt waren, um real zu sein. Wäre wenigstens einer der Angestellten im New Life schwer von Begriff, nachlässig, unhöflich oder ungeschickt gewesen, so hätte sich Dustys unbegreifliches Misstrauen gegen die
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