Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stimmen der Angst

Stimmen der Angst

Titel: Stimmen der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
Vom Netzwerk:
hatte. Er überlegte, ob er noch einmal nach Dr. Yen Lo fragen sollte, aber sein Gefühl sagte ihm, dass die Erwähnung des Namens seinen Bruder vielleicht wieder in diesen totenstarren Zustand versetzen und einen ähnlich unsinnigen, unbegreiflichen Dialog auslösen würde, wie er ihn heute schon einmal erlebt hatte.
    Also sagte er stattdessen: »Klare Kaskaden.«
    An Skeets gespenstischem Spiegelbild im Fenster konnte Dusty erkennen, dass er nicht einmal den Blick vom Teller hob. »Was?«
    »Zersprühen in den Wellen.«
    Skeet hob den Kopf, sagte aber nichts.
    »Kiefernnadeln blau«, fuhr Dusty fort.
    »Blau?«
    Dusty wandte sich vom Fenster ab und sagte: »Ergibt das irgendeinen Sinn für dich?«
    »Kiefernnadeln sind grün.«
    »Es gibt auch blaugrüne, glaube ich.«
    Nachdem er den letzten Bissen gegessen hatte, schob Skeet den Teller beiseite und zog den Nachtisch zu sich heran, frische Erdbeeren mit Sahne, mit braunem Zucker bestreut. »Irgendwie kommt mir das bekannt vor.«
    »Das kann ich mir vorstellen. Ich habe es nämlich von dir gehört.«
    »Von mir?« Skeets Überraschung wirkte echt. »Wann?«
    »Vorhin. Als du … weggetreten warst.«
    Skeet ließ genüsslich eine mit Sahne umhüllte Beere auf der Zunge zergehen, dann sagte er: »Klingt komisch. Ich hoffe bloß, dass so eine literarische Neigung mir nicht in den Genen liegt.«
    »Ist es irgendein Rätsel?«, wollte Dusty wissen.
    »Ein Rätsel? Nein, es ist ein Gedicht.«
    »Du schreibst Gedichte?«, fragte Dusty mit einem unverhohlen ungläubigen Ton in der Stimme. Er wusste genau, wie beharrlich Skeet alles mied, was er der Welt seines Vaters, des Literaturprofessors, zurechnete.
    »Es ist nicht von mir«, erklärte Skeet, während er wie ein Kind die Sahne vom Löffel schleckte. »Ich weiß nicht, wie der Dichter heißt. Alte japanische Dichtkunst. Haiku. Wahrscheinlich habe ich es irgendwo gelesen, und es ist mir im Gedächtnis geblieben.«
    »Haiku«, sagte Dusty, der sich vergeblich bemühte, dem Gesagten einen Sinn abzugewinnen.
    Den Löffel wie den Taktstock eines Dirigenten im Rhythmus des Gedichts schwingend, deklamierte Skeet:
    »Klare Kaskaden Zersprühen in den Wellen Kiefernnadeln blau.«
    Mit erkennbarem Rhythmus und Versmaß gesprochen, wirkten die Worte nicht mehr wie sinnloses Gebrabbel.
    Dusty fiel plötzlich ein Bild ein, das er vor Jahren in einer Illustrierten gesehen hatte, ein Vexierbild. Es war eine Bleistiftzeichnung mit dem Titel Wald : Bäume, die dicht an dicht aufragten, Kiefern, Tannen, Fichten und Erlen, in kerzengeraden Linien hintereinander aufgereiht. Die Bildunterschrift verriet, dass sich hinter der Baumlandschaft eine andere, reichere Welt verbarg, die sich einem erschloss, wenn man seine Erwartungen fallen ließ, wenn man es schaffte, den Wald zu vergessen und durch das oberflächliche Bild hindurch auf ein Panorama zu blicken, das völlig anders war als die Szenerie, die sich dem Auge vordergründig bot. Bei manchen dauerte es nur wenige Minuten, bis sie das zweite Bild sehen konnten, andere brauchten Stunden dafür. Dusty hatte die Zeitschrift nach zehn Minuten entnervt von sich geschoben – und in diesem Augenblick hatte er aus den Augenwinkeln die verborgene Stadt entdeckt. Und als er darauf den Blick direkt auf das Bild gerichtet hatte, erhob sich vor seinen Augen eine gigantische, gotisch anmutende Metropolis, in der sich mächtige Granitbauten aneinander drängten; die schattigen Waldwege zwischen den Baumstämmen hatten sich in schmale, düstere Straßenschluchten verwandelt, tief im Schatten der von Menschenhand geschaffenen Steinmassen, die kalt und grau in einen trostlosen Himmel ragten.
    Genauso hatten die Worte des Gedichts in jenem Augenblick eine neue Bedeutung für Dusty gewonnen, als er sie im Rhythmus eines Haiku gehört hatte. Plötzlich war ihm klar, was der Dichter damit sagen wollte: Die »klaren Kaskaden« waren Windböen, die Kiefernnadeln von den Bäumen fegten und ins Meer wehten. Es war eine schlichte, assoziative und treffende Beobachtung der Natur, die bei genauerer Betrachtung sicherlich etliche symbolische Bezüge zum menschlichen Leben offenbart hätte.
    Dennoch war die Absicht des Dichters nicht die einzige Bedeutung, die in diesen drei knappen Verszeilen enthalten war. In seinem rätselhaften Trancezustand hatte Skeet darin offenbar einen anderen, tieferen Sinngehalt gesehen, den er jetzt allerdings völlig vergessen zu haben schien. Er hatte die einzelnen Zeilen als Regeln

Weitere Kostenlose Bücher