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Stimmen der Nacht

Stimmen der Nacht

Titel: Stimmen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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Gliedern. Die Schwere tat gut. Sie ließ ihn die Schmerzen vergessen, und nicht nur die Schmerzen. Er mußte eingenickt sein, denn das nächste, was er sah, war wieder die Alte, die neben ihm hockte und mit irdenen Krügen hantierte, die giftgrüne, erdbraune und rostrote Salben enthielten.
    Gulf träumte, während die Vettel seine Wunde auswusch, salbte und neu verband. Er träumte in fiebrigen Phantasien, er sah Splitz so blutigrot im Jeep liegen, er sah Elizabeth und die Flammen, den Präsidenten im Oval Office und das monströse, von ganzen Klettenschwärmen umsummte Adolf-Hitler-Denkmal in Germania. Die aufgetragenen Salben brannten wie das Feuer, das Elizabeth verzehrt hatte, doch das Brennen nahm bald ab und hinterließ nichts als Taubheit.
    Weitere Männer mit Braunhemden, Hakenkreuzarmbinden, Runendolchen und Maschinenpistolen sickerten aus dem Wald, wie Motten, die vom Feuerschein angezogen wurden. Gulf spürte ihre Blicke auf sich ruhen, neugierige, scheue und ehrfürchtige Blicke, und sein Verdacht wurde zur Gewißheit.
    Man hatte ihn wegen Elizabeth entführt. Wahrscheinlich hatten die Spione der ODESSA seinen Weg von den Staaten bis nach Nancy und zur Alten Rheinstraße verfolgt und die Werwölfe über die Route des französischen Militärkonvois informiert. Die ODESSA, Bormann in den Anden …
    Er will mich, dachte Gulf. Er will mich, weil Elizabeth zu mir spricht; Elizabeth, die ebensowenig tot ist wie die Ungeheuer, die körperlos in Köln ihr Unwesen treiben. Hitler, wiederauferstanden aus dem Grab, das ihm die Bombe geschaufelt hat, Göring, Goebbels … Geister im Dom zu Köln. Aber warum Köln? Warum nicht Berlin?
    Er döste bis zum Spätnachmittag, an dem einige rotwangige Bauersfrauen aus dem Walddorf in das Lager der Werwölfe kamen und Tonkrüge mit frischer Milch und Körbe voller Wurst und Fleisch brachten. Der Schwarzbart ließ Gulf vor ihrer Ankunft in den Sichtschatten der Kate tragen und postierte zwei Werwölfe als Wache an seiner Seite. Er machte einen nervösen, ungeduldigen Eindruck, als würde er auf etwas – jemanden – warten.
    Dringend warten.
    Auf einen Kurier aus Deutsch-Amerika, auf einen Agenten der ODESSA? Auf neue Instruktionen? Diese Werwolf-Gruppe war nur ein Handlanger, ein Werkzeug des greisen Martin Bormann, der aus seinem Bunker in den Andenfelsen wieder Einfluß zu nehmen versuchte auf die Geschicke des Reiches.
    Träge schwand der Tag dahin. Die flüchtige Dämmerung des Himmels verschmolz mit der ewigen Dämmerung des Waldes. Fackeln wurden entzündet. Neben der Feuerstelle pflanzte der Schwarzbart eine Standarte in den Boden, das Banner mit dem Hakenkreuz und dem stilisierten Totenkopf, das Symbol der diabolischen Verbände der Waffen-SS, und rauhe Stimmen summten Wenn alle untreu werden der einsetzenden Nacht entgegen.
    Die Werwölfe ruhten, aßen und tranken, pflegten ihre Wunden, und vor allem warteten sie. Sie warteten und warfen Gulf immer wieder scheue, verstohlene Blicke zu. Selbst der Schwarzbart mit seiner barschen Art und seiner polternden Überheblichkeit sah Gulf oft unbehaglich von der Seite an, mied seine Nähe. Nur die häßliche Vettel ließ jegliche Zurückhaltung vermissen; wie eine aufgeregte Spinne huschte sie zwischen ihm und der Kate hin und her, kicherte ihm zahnlos ins Gesicht, brabbelte ohne Unterlaß, und dann und wann glaubte er sogar, aus ihrem unverständlichen Redeschwall den Namen Elizabeth herauszuhören.
    Gelegentlich tauchte ein Melder aus der zunehmenden Dunkelheit auf, hob den rechten Arm zum alten deutschen Gruß und flüsterte dem Schwarzbart etwas ins Ohr, um dann so lautlos und schnell zu verschwinden, wie er gekommen war.
    Die Zeit, dachte Gulf, die Zeit ist hier im Krautland stehengeblieben. Nicht, weil Hitler in den verfallenen Gemäuern Kölns herumspukt oder weil Göring und Goebbels auch im Tode nicht schweigen, sondern weiterlügen und weiterprahlen und schreckliche Drohungen ausstoßen … All das hat nichts damit zu tun. Denn Hitler ist nicht erst vor kurzem von den Toten wiederauferstanden – hier ist er nie gestorben. Er hat seit dem Krieg in diesen Menschen fortgelebt, sie mit der Hartnäckigkeit des Wahnsinns besessen. Splitz hatte recht: Wir träumen, ohne erwachen zu können, aber die Deutschen leiden unter einem weit schlimmeren Schicksal – sie leben und sie sind dennoch tot, wiederholen auf ewig die Gedanken und Worte und Taten der Vergangenheit. Das Dritte Reich ist nicht im Jahre 1945 untergegangen,

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