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Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Titel: Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Brodie
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eine total verrückte Feministin, die Männer hasste   – eine Bemerkung, bei der Grace zusammenzuckte. Es stimmte, Professor Greene war Feministin; sie behandelte in ihren Seminaren auch die feministische Literaturtheorie, ohne sich groß dafür zu rechtfertigen. Aber Grace hätte schwören können, dass Kyle und Nolan alle Feministinnen für einen Haufen wütender Lesben hielten. Und im Laufe der nächsten vierundzwanzig Stunden würden sich die Studenten im Wohnheim sicher alle auf dieses Klischee stürzen und auf dem Campus dasGerücht verbreiten, dass Professor Emma Greene eine hitzköpfige Männerhasserin war, die ein Mitglied der Studentenvereinigung ermordet hatte.
    Nach einer Weile war Grace in ihr eigenes Apartment zurückgekehrt, wo binnen einer halben Stunde zwei Deputys vor der Tür standen. Sie erzählte ihnen dieselbe Geschichte, die Kyle aufgesagt hatte, nur ohne den feministischen Part; aber sie hätte schwören können, dass sie ihr nicht glaubten. Sie stellten immer weitere Fragen. Wo stand sie, als sie Jacob daliegen sah? Und warum hatte sie nicht die Polizei gerufen? Damit hatten die beiden Deputys das größte Problem   – Jacob lag blutend im Hausflur der Frau, die ihn angegriffen hatte, und sie und Kyle hätten ihn einfach zurückgelassen?
    Jacob sei tot gewesen, erwiderte Grace, und Professor Greene habe den Baseballschläger noch immer in der Hand gehabt, deshalb seien Kyle und sie um ihr Leben gerannt. Erst da erfuhr Grace, dass Jacob noch nicht tot war   – er lag im Koma, und das Krankenhaus von Jackson hatte ihn per Hubschrauber in die Universitätsklinik in Charlottesville verlegen lassen. Die Deputys meinten, sie könnten schon verstehen, warum Grace und Kyle weggefahren seien, aber ohne die Polizei zu rufen? Emma Greene hätte sie mit ihrem Baseballschläger ja nun nicht gerade die Straße hinuntergejagt. Warum hatten sie nicht versucht, ihrem Freund zu helfen? »So weit draußen auf dem Land kriegt man kein Netz«, erklärte Grace ihnen, was stimmte, und es wäre eine großartige Entschuldigung gewesen, wenn sie ihr früher eingefallen wäre. Aber zu dem Zeitpunkt hatte sie schon so viele andere Erklärungen vor sich hin gemurmelt, dass der Schaden bereits angerichtet war.
    »Den Rest kennst du, glaube ich«, hatte Grace zu Maggie in der Bibliothek gesagt, und das Mädchen hatte genickt. Maggie kannte all die bedrückenden Folgen, die einer Professorin drohten, die beschuldigt wurde, einen ihrer Studenten getötet zu haben.
    »Es tut mir besonders leid«, hatte Grace noch hinzugefügt, »weil deine Mutter immer nett zu mir war.« Als Grace Professor Greene einmal in ihrem Büro aufsuchte und um Hilfe bei einem Essay bat, hatte sie ihr gestanden, dass sie Dichtung eigentlich nicht mochte. Professor Greene hatte nur gelächelt, ein Buch aus ihrem Bücherregal gezogen und es auf einer mit einem Eselsohr markierten Seite aufgeschlagen. »Lesen Sie das«, hatte sie gesagt und Grace das Buch gereicht.
    Selbst jetzt, als sie hier im Bett saß, konnte Grace sich noch an die Worte erinnern. Sie hatte sie am Ende des Semesters für die von Professor Greene gestellte Rezitationsaufgabe auswendig gelernt:
     
    Dichtung
    Ich mag sie auch nicht: So manches, was von Belang ist, liegt abseits von diesem Mumpitz. Liest man sie aber voller Geringschätzung durch, so entdeckt man, dass da trotz allem Raum ist für Echtes.
     
    Professor Greene hatte ihr alles über Marianne Moore erzählt   – dass die Dichterin gern die Silben in jedem ihrer Verse zählte und ihre Strophen Silbenmustern folgend baute. Emma wusste, dass Grace im Hauptfach Mathematik studierte und sich für alles interessierte, das man zählen, errechnen und beweisen konnte, und so zeigte sie Grace, dass Dichtung traditionell auf rhythmischen Strukturen basierte, die den mathematischen Grundlagen der Musik ähnlich waren, und sie sprach über Numerologie und die Muster, die einige Dichter der Renaissance in ihr Werk eingebaut hatten.
    »Deine Mutter war eine richtig gute Lehrerin, und ich habe ihr nie gedankt.«
    Maggie waren Tränen in die Augen gestiegen, und Grace meinte zu wissen, warum   – die Schande, die Professor Greene ertragen musste, die Scheidung der Eltern, die Jahre der Trennung von Mutter und Tochter.
    Aber Maggie dachte an nichts dergleichen. Ihr hatte noch nie jemand gesagt, dass ihre Mutter eine gute Lehrerin war, und sie fragte sich, warum sie das nie für möglich gehalten hatte. Warum hatte sie nie

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