Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
habe?«
»Wenn du es mir erzählen möchtest«, erwiderte der Arzt.
»Ich habe nicht geredet, weil ich zu viel wusste, und ich hatte Angst, dass ich meine Mom in Schwierigkeiten bringen könnte.«
Als sie den harten, stummen Blick sah, mit dem ihre Mutter Jacob musterte, hatte Maggie beschlossen, ebenso zu schweigen. Leise hatte sie die Tür ihres Zimmers geschlossen und ohne ein einziges Flüstern die Strickleiter unter ihrem Bett hervorgeholt. Schweigen war dringend geboten gewesen. Es war das einzige Geschenk, das sie ihrer Mutter machen konnte, als Emma sie eine halbe Stunde später im Wald fand. Was hätte sie auch zu ihrer Mom sagen sollen?
Warum hast du diesen Menschen getötet? Musst du jetzt ins Gefängnis?
Und die wichtigste Frage von allen:
Würdest du das auch mir antun?
Maggie hatte nichts gesagt, als ihre Mutter sie weinend auf den Arm genommen hatte. Sie hatte nichts zur Polizei gesagt, deren Blaulichter grell flackerten, als sie und ihre Mutter aus dem Wald traten; und auch nichts zu dem Sheriff, der auf dem Sofa im Spielzimmer neben Maggie saß und ihr Fragen stellte, während ein Deputy ihre Mutter in einem anderen Zimmer festhielt. Der Sheriff hatte alles Mögliche über Polly-Pocket-Puppen,Baseballschläger und Armbänder wissen wollen, und ob ihre Mutter manchmal Wutanfälle kriegte? Ob sie oft sehr ärgerlich war? Und ob ihre Mommy in dieser Nacht wütend geworden war?
Die fünfjährige Maggie sagte nie »Mommy«, und sie fand, dass es albern klang aus dem Mund eines erwachsenen Mannes. Als Erwiderung hatte sie einen Satz über ihr Recht zu schweigen geäußert, an den sie sich aus dem Fernsehen erinnern konnte, und dann all ihre Aufmerksamkeit Sophie zugewandt, die völlig verstört war. Maggie konnte ihre Mutter im Nebenzimmer aufgebracht rufen hören: »Ich will meine Tochter sehen – Sie dürfen sie gar nicht von mir fernhalten!«, und schließlich war ihr Dad hereingestürmt, hatte Maggie vom Sofa genommen und den Sheriff angebrüllt: »Was zum Teufel erlauben Sie sich eigentlich?«
In den folgenden Tagen hatte sich immer Jed Christianson, der Anwalt ihrer Mutter, zu ihr aufs Sofa gesetzt und ihr das Knie getätschelt, wenn der Sheriff oder seine Deputys wiederkamen, um mit Maggie zu sprechen. Ihm gefiel Maggies Schweigen der Polizei gegenüber, vor allem, weil sie auch mit ihm nicht gesprochen hatte. »Sag nichts«, hatte er ihr geraten, »solange du es nicht zuerst mir erzählt hast.« Doch ihr Schweigen hatte sich auch auf ihren Vater und ihre Mutter erstreckt. Sie antwortete auf Fragen nach Spielzeug, Büchern und ihren Lieblingsflocken zum Frühstück, aber wenn sie sich dem Thema näherten, was sie im Flur gesehen hatte, verstummte Maggie. Was ihren Vater schließlich veranlasste, Dr. Riley anzurufen.
Emma hatte sich entschieden dagegen ausgesprochen. »Maggie wird reden, wenn sie so weit ist.«
»Und wann wird das sein?«, hatte Rob erwidert. »Wenn sie sechzehn ist und selbstmordgefährdet? Du weißt, dass sie nicht schläft und kaum Appetit hat. Sie braucht Hilfe.«
Der Widerwille ihrer Mutter hatte Maggie nur bestätigt in ihrem Schweigegelübde, und monatelang hatte auch Dr. Rileynicht mehr Erfolg gehabt als die Polizei. Maggie fand, dass sie das Reden ganz ihrer Mutter überlassen sollte, denn Emma benutzte Worte wie »Selbstverteidigung« und »zum Schutz meines Kindes«, die vernünftiger klangen als alles, was Maggie bieten konnte. Maggie hatte nach dem Ereignis jahrelang versucht, sich selbst von der Vernünftigkeit ihrer Mutter zu überzeugen und die Adjektive auszublenden, die sie in Gesprächen von Eltern anderer Vorschüler gehört hatte:
impulsiv, temperamentvoll, unberechenbar, labil
. Sie verstand all diese Begriffe nicht, als sie fünf war, nur ein einziges Wort,
verrückt
, das eine Angestellte im Supermarkt sagte, die errötete und wegsah, als Maggie ihr in die Augen starrte.
Ihre Mutter war also eine Verrückte – darüber schien in der Stadt Einigkeit zu herrschen –, und ein Teil in Maggie fürchtete, dass die Gerüchte wahr sein könnten. Hatte ihre Mutter denn nicht oft gesagt, dass sie bei all ihrer Arbeit noch verrückt werde oder dass Maggie sie ganz wahnsinnig mache? Maggie wusste, dass ihre Mutter jähzornig war und zu Wutanfällen neigte, und sie hatte Angst, sie könnte im Gespräch mit der Polizei die Wahrheit verraten – dass ihre Mom früher schon getötet hatte.
Angefangen hatte es mit kleinen Vorkommnissen wie dem
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