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Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Titel: Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Brodie
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sie zu büßen hatten, einen qualvollen Schritt nach dem anderen.
    »In Ordnung«, hatte Grace zu Maggie gesagt, bevor sie die Bibliothek verließ. »Sag mir einfach, wann.«

19
    »Neun Jahre lang habe ich mich gefragt, ob meine Mom eine Mörderin ist.«
    Maggie saß auf Dr.   Rileys Sofa, vorgebeugt, die Ellbogen auf die Knie gestützt und die Hände ineinander verkrampft. Sie löste die Finger und lehnte sich zurück, den Blick auf das dunkle Haar auf dem linken Unterarm des Arztes gerichtet. Er hatte schon fünf Minuten nach ihrem Kommen die Ärmel aufgekrempelt, was Maggie als einen persönlichen Triumph betrachtete. Es gefiel ihr, Dr.   Riley aufgeregt zu sehen.
    Sie hatte am Abend zuvor nach ihrem Treffen mit Mrs Murdock in der Bibliothek bei dem Arzt zu Hause angerufen und gefragt, ob sie ihn sehen könne, je früher, desto besser. Und natürlich hatte der gute Doktor Zeit gefunden, denn Maggie hatte noch nie um eine Sitzung gebeten; sie hatten immer nur stattgefunden, weil ihr Vater darauf bestand. Binnen zwanzig Minuten hatte Maggie ihm dann alles erzählt   – dass sie in Mrs Murdock plötzlich Sandra McCluskey wiedererkannt hatte, die Notiz auf dem gelben Blatt Papier, das Treffen in der Bibliothek und alle Verbrechen Jacob Stewarts.
    »Und das hat deine Gefühle für deine Mutter verändert?«, fragte Dr.   Riley.
    »Ich weiß nicht. Es ist alles so verwirrend.«
    Dr.   Riley sah ihr abwartend in die Augen.
    »Ich kann ja nicht mal sicher sein, ob Mrs Murdock jetzt die Wahrheit sagt«, fuhr Maggie fort. »Sie hat bis jetzt dermaßen gelogen. Ich meine, alles, was sie mir erzählt hat, klingt wahr. Aber ich weiß nicht, ob das nur daran liegt, dassich glauben will, dass Jacob Stewart wirklich fies war und es richtig war, dass meine Mom ihn getötet hat.«
    »Warum hast du daran gezweifelt, dass es richtig war?«
    Maggie zögerte und dachte zurück an jene Nacht vor neun Jahren, als sie begann, ihre Mom zu verurteilen. In dem Augenblick damals wusste sie nur, was ihre Augen gesehen hatten   – dass sich ein großer College-Student mit dunklem Haar in ihr Haus hereingedrängt hatte und ihre Mutter ihm mit einem Baseballschläger auf das rechte Bein schlug, sodass er auf die Knie fiel und die schlimmsten Flüche ausstieß, die Maggie je gehört hatte. Und dann hatte ihre Mutter mit einer einzigen fatalen Bewegung, so gleichmäßig wie das Zurückschwingen eines Pendels, den Baseballschläger gegen den Schädel des Studenten geschlagen, was ein Knacken verursachte, so als wäre ein Holzscheit ins Kaminfeuer gefallen.
    Das Ganze hatte vermutlich nicht länger als fünf Sekunden gedauert, auch wenn es sich in Maggies Erinnerung wieder und wieder im Zeitlupentempo abspielte   – ihre Mom mit dem Baseballschläger in beiden Händen, die ihn seitlich gegen das rechte Knie des Studenten schlugen und so einen Rückhandschlag ausführten, den sie in dreiundzwanzig Jahren Tennisspiel perfektioniert hatte. Und dann kniete der Student vor ihr, sein Schädel ein hüfthohes Ziel, das, so pervers es auch klingen mochte, Maggie an Kinderbaseball erinnerte: das runde, auf einem Stock balancierende Objekt und der Batter, der voll ausholte und den Ball so zu schlagen versuchte, dass ihm ein Home Run gelang.
    Als Nächstes kam der Schrei, oft wiederholt in Maggies Träumen, ein Laut, den sie zuerst sich selbst zuschrieb   – der Schrei einer Vorschülerin angesichts der Menge an Blut, die aus dem Ohr eines Menschen dringen konnte. Oder war es der Schrei ihrer Mutter, die begriff, was sie getan hatte? Bis gestern war Maggie nie sicher gewesen. Doch als sie in der Bibliothek saß und Mrs Murdock flüsternd ihre Geheimnisse preisgab, erfuhr sie, dass der Schrei von dem Mädchen gekommenwar, das auf der Veranda stand und Jacobs Tod aus nächster Nähe mit ansah.
    Maggie wusste es, weil sie sich gestern in diesem Bibliothekssessel plötzlich wieder an das keuchende »Oh Gott! Oh Gott!« einer Frauenstimme erinnern konnte, die weder ihre eigene noch die ihrer Mutter war. Und sie erinnerte sich auch, in jener Nacht durch das Treppengeländer hinuntergeschaut und gesehen zu haben, dass ihre Mom keinen Laut von sich gab. Emma Greenes Mund war zusammengepresst zu einer unbewegten, starren Linie, als sie auf ihr Werk blickte.
    Maggie sah zu Dr.   Riley auf. »Wollen Sie wissen, warum ich mit Ihnen in den ersten Monaten der Therapie nicht über Jacobs Tod geredet habe? Und warum ich nicht mit der Polizei geredet

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