Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
bedacht, dass manche Studenten ihre Mutter gemocht haben könnten – dass ihre Mutter vielleicht sogar jemandes Lieblingsprofessorin gewesen war?
Mrs Murdock redete immer noch. »Ich hätte mich nie mit solchen Jungs einlassen dürfen. Hoffentlich tut meine Tochter so etwas nie.«
Einen Augenblick lang dachte Maggie an Mike Hodges und fragte sich, über welche bösen Dinge sie bereit wäre hinwegzusehen, nur um mit jemandem wie ihm zusammen zu sein. Was würde sie tun, wenn sie die Knochen einer sezierten Katze unter seinen wissenschaftlichen Experimenten finden würde?
»Ich wünschte, ich könnte es wiedergutmachen.«
Graces letzte Worte klangen gekünstelt, und Maggie fragte sich, wie diese Frau irgendetwas wiedergutmachen könnte für sie.
»Es gibt eine Sache, die Sie tun könnten«, sagte sie.
»Was denn?«
Maggie drehte sich zu ihrer Lehrerin um und sah ihr zum ersten Mal an diesem Nachmittag in die Augen. »Ich möchte«, Maggie wählte ihre Worte mit Bedacht, »dass Sie meiner Mom Ihre Geschichte erzählen. Ich möchte, dass sie sie von Ihnen hört. Sie wohnt in Washington, aber sie kommt jeden Monat einmal nach Jackson und wohnt dann bei den McConnells. Kennen Sie Kate McConnell? Sie ist auch in der Neunten.«
Grace schüttelte den Kopf.
»Kate ist eine Freundin von mir, und ihre Mutter war eine Kollegin meiner Mutter.«
»Professor Sarah McConnell aus dem Institut für Englische Philologie?«
»Genau.« Maggie nickte. »Seit meine Eltern geschiedensind, wohnt meine Mom immer bei Mrs McConnell, wenn sie hier ist. Sie hat vor, zu Thanksgiving zu kommen. Wenn ich ihr eine Mail schicke, kommt sie aber bestimmt gleich nächstes Wochenende.«
»Deine Mutter wird mich nicht treffen wollen.« Grace seufzte.
»Doch, wenn sie versteht, was Sie zu sagen haben, schon. Denn …« Maggie zögerte, »ich glaube, in all den Jahren hat meine Mom nie gewusst, ob sie richtig gehandelt hat. Professoren sollten ihre Studenten unterstützen und nicht angreifen, und sie hat mir mal erzählt, dass sie Jacob eigentlich mochte, bis zu dem Augenblick, als er sie bedrängte. Es herrscht immer noch viel Verwirrung über diese Nacht, bei ihr und bei den meisten Leuten hier. Und Ihre Geschichte könnte ihr eine Art Frieden geben.«
Grace schüttelte den Kopf. Maggie wusste nicht, worum sie da bat. Professor Greene würde keinen Wert auf Graces Erklärungen legen; eine Richtigstellung neun Jahre nach dem Geschehen wäre völlig nutzlos. Außerdem hatte Grace sich darauf eingestellt, ihre Seele einer sensiblen Fünfzehnjährigen offenzulegen, einem Mädchen, mit dem sie so reden konnte wie eine Mutter mit einem Kind, denn es war nichts Einschüchterndes an Maggie Greene. Bei einem Treffen mit Emma Greene würde Grace sich fühlen wie die Studentin der Professorin gegenüber, der sie Unrecht angetan hatte, einer Frau, die klüger und souveräner war als sie selbst. Was konnte Grace anderes sagen als »Hallo, Professor Greene, tut mir leid, dass ich Ihr Leben versaut habe«?
Doch als sie jetzt das helle Sonnenlicht auf den mit Eheringen gemusterten Quilt fallen sah, erkannte Grace, dass es doch etwas gab, was sie Professor Greene sagen konnte. Etwas, das sie Maggie nicht erzählt hatte – ein letztes, noch nicht offenbartes Fragment der Wahrheit.
Grace beugte sich zu der offenen Schublade ihres Nachttisches hinüber, griff tief hinein und zog einen kleinen Samtbeutelhervor. Seit neun Jahren bewahrte sie ihn schon auf, immer versteckt hinter Seidenstrümpfen oder Halstüchern, nie geöffnet, aber auch nie vergessen. Und jetzt leerte sie ihn hier im Bett zum ersten Mal aus und ließ den Inhalt auf die Decke fallen – Professor Greenes Bettelarmband.
Sie berührte die winzigen Ballettschuhe, das silberne Hufeisen und das auf einer Seite aufgeschlagene Zinnbuch, in das drei Buchstaben eingraviert waren: EMP. Als Grace mit den Fingern über die Initialen strich, musste sie an Tolkien denken – die Macht des fluchbeladenen Schmuckstücks, die die Seele des Trägers verformte. Es war wohl an der Zeit, dachte sie, dieses gestohlene Armband seiner Besitzerin zurückzugeben, auch wenn es für sie eine ungeheuerliche Demütigung bedeutete.
Also gut.
Buße war nie einfach. Buße war nichts, das man an einem Nachmittag erledigen konnte. Natürlich würde es viele Proben geben, jede einzelne schwerer als die vorangehende, genauso wie für Peter und Paul und all die frühen Christen mit ihren Bergen an Sünden, die
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