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Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Titel: Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Brodie
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Verbrechen es war, ein Nagetier mit dem Auto überfahren zu haben. Der Sheriff und die meisten seiner Deputys waren vermutlich Jäger   – Männer, die Eichhörnchen aus Spaß erschossen, genauso wie Vögel und Kaninchen   –, solche, die zum Messer greifen und ohne mit der Wimper zu zucken einem Hirsch das Geweih aus der Stirn schnitten oder verstümmelte Kadaver neben den Müllcontainern ablegten, wo Kinder wie Maggie sie dann fanden.
    Doch Maggie redete nicht mit dem Sheriff, aus Angst vor dem, was sie sonst noch alles ausplaudern könnte. Aus ihrer Sicht war ihre Mutter schuldig, nicht weil sie ein Eichhörnchen oder einen Studenten getötet hatte, sondern weil sie nie langsamer machte. Das war der sie belastende Umstand in beiden Todesfällen. Im Fall des Eichhörnchens hätte ihre Mutter schon beim ersten Anblick des Tieres bremsen sollen. Es war das heranbrausende Auto gewesen, was das arme Ding verwirrte, das friedlich die Straße überquert und den schönen Morgen genossen hatte, bis es vom Geräusch eines Motors aufgeschreckt wurde. Wo war es in Sicherheit? Wo war es geborgen? Das Eichhörnchen hatte den Tod kommen hören und war in panischer Angst hin- und hergeflitzt, bis sein Schädel zertrümmert wurde.
    Und das galt auch für den dunkelhaarigen Studenten in ihrem Flur, ein weiteres Opfer von Emmas Hast. Als er sich ins Haus hereingedrängt hatte, forderte sie ihn nicht zuerst auf, hinauszugehen. Sie reagierte noch in der Sekunde, in der er durch die Tür trat, und als er auf die Knie fiel, hielt sie immer noch nicht inne. Ihr zweiter Schlag war sofort erfolgt, wie das Metronom auf Maggies Klavier, das unerbittlich nach rechts und links ausschlug.
    Hätte ihre Mutter den Baseballschläger nicht loslassen können, als der Student kniete? Hätte sie nicht die Tür vorden anderen verschließen und die Polizei rufen können? Der Sheriff hätte diese Fragen vielleicht gestellt, wenn Maggie sich ihm geöffnet hätte, als sie klein war. Und er hätte vielleicht auch die belastendste Frage von allen gestellt. Schlägt deine Mutter je Menschen, wenn sie wütend ist?
    Und was hätte Maggie dann gesagt?
    Ja, ja, ja.
     
    Drei Monate zuvor hatte Emma Maggie allein oben spielen lassen, während sie das Erdgeschoss für eine Dinnerparty putzte, staubsaugte und wischte, Glastüren und Tische polierte, Bücher und Socken, Schuhe und Bonbonpapier wegräumte, die Spülmaschine ausräumte und wieder belud und die Küche und die Toilette unten schrubbte. Zwei Stunden lang hatte ihre Mutter stetig gearbeitet, nur unterbrochen von Maggie, die alle Viertelstunde kam und sagte: »Ich male ein Bild. Schau doch mal.«
    »Das tu ich, wenn ich fertig bin, Liebling. Mal nur schön, und bring dein Zimmer nicht durcheinander.«
    Und so hatte Maggie weitergemalt   – Tiere und Flüsse und Bäume mit Blättern wie Weinranken, es war das schönste Bild, das sie je gemalt hatte, mit allen Farben aus ihrer Filzstiftsammlung   –, bis sie hörte, wie der Staubsauger in den Wandschrank gerollt wurde, und sie noch ein letztes Mal zu ihrer Mom hinunterrief: »Schau dir doch mein Bild an!«
    Mit müden Schritten war ihre Mutter die Treppe heraufgekommen. Ihr blieb noch eine halbe Stunde zum Umziehen, bis die Gäste kamen.
    Als sie die oberste Stufe erreicht hatte, wandte Emma sich zum Flur, wo Maggie lächelnd stand und auf das Lob ihrer Mutter wartete. Bis zum heutigen Tag erinnerte Maggie sich daran, wie ihre Mutter die Augen aufriss und den Mund öffnete, ehe ein schriller Schrei aus ihrer Kehle drang. »Was ist
das
denn! Was hast du dir bloß gedacht!«
    Maggie hatte ein Wandgemälde erschaffen, genau so einswie in der Kinderabteilung der Stadtbibliothek, einen ganzen Regenwald mit Affen und Papageien und Schlangen.
    »Du weißt doch, dass du die Wände nicht bemalen darfst!« Emma sah auf den Boden, wo dicke Filzstifte ohne Kappe dalagen, sodass die Leuchtfarbe in den weißen Berberteppich sickerte. Sie sammelte sie ein und starrte den lila-grünen Rorschachtest auf ihrem Teppich an.
    »Tut mir leid«, murmelte Maggie.
    Ihre Mutter packte Maggie mit einer solchen Kraft beim Arm, dass das Mädchen dachte, sie würde ihn ausreißen. Emma hob ihre Tochter vom Boden auf, zerrte sie in ihr Zimmer und schrie: »Ich versuche hier, das Haus sauber zu machen, und du hast nichts Besseres zu tun als das!«
    Plötzlich hatte sie ausgeholt und mit der flachen Hand Maggie den ersten Schlag ihres Lebens versetzt, einen Klaps, der auf ihren

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