Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
Umzug zu einer weiteren Last auf Emmas Schultern, und Tag um Tag verbrachte sie damit, ihr früheres Leben in Pappkartons zu verpacken. Das Haus am Wade’s Creek hatten sie natürlich nicht verkaufen können – in den ersten drei Monaten hatten sie es nicht einmal versucht. Wer wollte schon ein Haus, in dem ein Mord geschehen war? Und als ihr Immobilienmakler im September dann die erste Besichtigung durchführte, waren die Leute eher auf das Verbrechen als auf die Küche gespannt. Sie wollten den Boden sehen, auf den Jacob gestürzt war, nicht die neu eingebaute Küche. Sie wollten die Haustür öffnen und sich vorstellen, dass der Baseballschläger immer noch an der Garderobe lehnte.
Es kam Emma entgegen, dass sich das Haus nicht sofort verkaufen ließ. So manches Mal in diesem ersten Herbst war sie an den Wade’s Creek zurückgekehrt und auf dem Grundstück spazieren gegangen, angeblich, weil sie den Zwergfliederzurückschneiden und die Wiese mähen musste, und jedes Mal hatte Maggie gefragt, ob sie mitkommen durfte. Als im Oktober die Äpfel reif waren, fuhren sie wieder hin und pflückten fast zwei Zentner, und Anfang November kehrten sie das Laub im Garten vorne zu Haufen zusammen, die so riesig waren, dass Maggie hineinspringen und darin verschwinden konnte. Mitte Dezember schneite es zum ersten Mal, und weil Maggie fand, dass es in Jackson keine so schönen Schlittenhügel gab wie auf ihrem Grundstück am Wade’s Creek, fuhr Emma sie mitsamt dem Schlitten hinaus, und zusammen waren sie von der Kuppe hinter dem Haus bis hinunter an den Bach gefahren.
Als sie den Schlitten wieder den Hügel hinaufzogen, hatte Maggie die leere Veranda und die dunklen Fenster betrachtet. »Unser Haus sieht einsam aus.«
»Ja«, bestätigte Emma, »aber bald wird eine andere Familie einziehen, und sie werden es wieder mit Leben füllen.«
Diese Familie tauchte schließlich tatsächlich auf, aber nicht rechtzeitig genug, um Emmas und Robs Ehe zu retten. Sie zerbröckelte in der Folgezeit unter der Belastung zweier Hypotheken, was sich noch dadurch verschärfte, dass Emmas Festanstellung immer unsicherer wurde.
Als sie durch das Blue-Ridge-Gebirge fuhr und Richtung Süden in das Shenandoah Valley, dachte Emma daran, wie seltsam ihr letztes Jahr in Holford verlaufen war. Sie hatte ihren Job verloren, aber nicht so, wie sie es erwartet hatte – nicht durch ein Komitee, das ihre magere Anzahl an Veröffentlichungen als Begründung vorschob, ihr die Festanstellung zu verweigern. Unmittelbar nach Jacobs Tod hatte Emmas Institutsleiter, Joe Williams, bestimmt, dass die Entscheidung über Emmas Festanstellung verschoben werden sollte, und Emma war dankbar gewesen über diesen Aufschub, weil jeder Monat neue Aufregungen brachte.
Zuerst war ein Artikel im ›Chronicle of Higher Education‹erschienen, von Janice Lee, einer alten Freundin von Sarah. Zwei Wochen nach Jacobs Tod hatte Sarah Janice überredet, einen Hintergrundbericht über Emmas Version dessen zu schreiben, was bereits »der Holford-Mord« genannt wurde. Janice war die einzige Journalistin, mit der Emma sprach, und ihr Artikel nutzte den Fall als Ausgangspunkt für eine breitere Diskussion der Sicherheit von Professoren an Colleges und zählte eine Reihe von an Professoren verübten Gewalttaten auf, von denen Emma noch nie gehört hatte – ein Chemiker in Chicago hatte schwere Brandwunden erlitten bei einer Explosion im Labor, die ein verärgerter Student inszeniert hatte; ein Mathematikprofessor in Neveada war von einem Studenten im zweiten College-Jahr in den Kopf geschossen worden, weil er in Analysis durchgefallen war; ein Englisch-Dozent in New York war einen Monat lang von einer zornigen Mutter per E-Mail mit Todesdrohungen bombardiert worden, die behauptete, seine unfaire Note hätte ihre Tochter das Stipendium gekostet.
Und zwischen all diesen Geschichten hatte die von Emma gestanden: eine Professorin, die zurückschlug. Es war günstig gewesen, dass sie eine Frau und ihr Angreifer ein Mann war. Das gab Janice Gelegenheit, den Artikel mit einem feministischen Touch zu versehen. Janice rechnete ab mit allen Vorwürfen, dass Emma eine liberale Verrückte sei. Sicher, Professor Emma Greene hatte den Tierschutz radikal unterstützt; aber ihr Wunsch, misshandelte Tiere zu befreien, war nur ein erster Vorbote ihres unbedingten Willens, ihre Tochter zu schützen.
Sarah hatte der Artikel so gut gefallen, dass sie ihn Emma an ihrem Küchentisch vorlas. Doch
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