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Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Titel: Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Brodie
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fiel ihr auf, dass das Zimmer sie genauso irritierte wie die Lehrerin. Weil Mrs Murdock neu an der Schule war, hatte sie eins der düsteren Löcher bekommen, das auch durch die Gummibäume und die Poster von Griechenland (dem Geburtsland der Geometrie!), die sie an den Wänden aufgehängt hatte, kaum schöner wurde. Dieses deprimierende Klassenzimmer hatte vielleicht schon unguteAuswirkungen auf Mrs Murdocks geistige Verfassung gehabt, dachte Maggie. Der Mangel an Sonnenlicht und frischer Luft musste doch ähnlich tödlich wirken wie Kohlenmonoxid.
    Vor dem Schreibtisch ihrer Lehrerin blieb sie stehen und dachte, dass die Frau wenigstens jetzt mal den Kopf heben müsste, um ihrer Schülerin ins Gesicht zu sehen.
    Oder auch nicht. »Stell dich bitte hier neben mich.« Wieder sprach Mrs Murdock, ohne aufzublicken.
    Maggie trat rechts neben ihre Lehrerin und war ziemlich überrascht zu sehen, dass Mrs Murdock weder Klausuren noch Hausaufgaben korrigierte. Sie löste Sudokus   – drei auf einmal. Große Briefbeschwerer aus Quartz hielten die Rätselbücher offen.
    »Ist es nicht verwirrend, mehr als ein Rätsel auf einmal zu machen?«, fragte Maggie.
    Mrs Murdocks Bleistift hielt zögernd über einem leeren Quadrat inne. »Liest du nie mehrere Bücher parallel?«
    Gutes Argument, dachte Maggie und sah den Stapel Romane vor sich, der auf ihrem Nachttisch wartete.
    »Wenn ich ein richtig gutes Buch finde«, erwiderte Maggie, »lese ich es, ohne zwischendurch zu etwas anderem zu greifen. Aber meistens lese ich zwei oder drei Bücher parallel.«
    »So ist es bei mir mit Sudoku«, erklärte Mrs Murdock. »Wenn mich ein Rätsel gefangen nimmt und ich Fortschritte mache, dann bleibe ich dabei. Aber meistens bleibe ich mittendrin stecken, und wenn ich mir dann eine Weile lang ein anderes Rätsel vornehme, sehe ich das alte mit anderen Augen, sobald ich es wieder zur Hand nehme   … Magst du Sudoku?«
    »Manchmal«, sagte Maggie. »Ich lese vorm Schlafengehen gern. Aber wenn ich nicht einschlafen kann, hilft Sudoku mir, runterzukommen.«
    »Genau.« Mrs Murdock tippte mit ihrem Bleistift auf das leere Rätselquadrat. »Zahlen beruhigen meinen Geist. Siehaben ein Muster, eine Logik, eine Ordnung, und sie füllen den Kopf nicht mit so vielen beunruhigenden Bildern. Deshalb habe ich auf dem College Mathematik als Hauptfach studiert. Alle meine Seminare in Geschichte, Englisch und Naturwissenschaften beschäftigten sich stets mit schlechten Nachrichten   – überall viel zu viele Menschen, die sterben, oder Tiere, die ihren Lebensraum verlieren   … In mathematischen Gleichungen gibt es keine Tragödien.«
    Seltsam, Maggie hatte Mathe immer als eine Quelle des Kummers betrachtet   – der dunkle Fleck in ihrem Stundenplan. Aber wenn sie darüber nachdachte, ja, es waren tatsächlich ihre Schulbücher für Geschichte und Naturwissenschaften, die das echte menschliche Leid auf der Welt enthielten: Klimakatastrophe, Völkermord und Ausrottung. In Mathe gab es wenigstens Lösungen für die Probleme.
    »Bei welchem Schwierigkeitsgrad bist du bei Sudoku?«, fragte Mrs Murdock.
    »Ich habe schon ein paar ziemlich schwierige gelöst.«
    »Hier, dann nimm das.« Die Lehrerin reichte Maggie ein rotes Taschenbuch, auf dessen Umschlag der Titel ›Extrem-Sudokus‹ prangte.
    Maggie verdrehte die Augen angesichts der Flammen, die aus den Großbuchstaben E und S schlugen. »Extrem-Sudokus« klang wie ein Widerspruch in sich. Sudoku war kein Bungee-Springen oder Freiklettern an gefährlichen Felsen. Es war, wie Mrs Murdock gesagt hatte, in Mathe starben keine Menschen.
    »Wann wollen Sie es wiederhaben?«
    »Du kannst es behalten.« Die Lehrerin tippte immer noch mit ihrem Bleistift auf dem leeren Quadrat herum.
    »Danke.« Während Maggie schweigend wartete, musterte sie die gerahmten Bilder auf dem Schreibtisch. Das also waren die Gesichter, die Mrs Murdock ansah, wenn sie zur Klasse sprach   – sie nahm ja nur selten Blickkontakt mit den Schülern auf. Stattdessen konzentrierte sie sich auf eins dieserFotos, und Maggie sah auf dem linken Bild ein kleines Mädchen mit hellbraunen Zöpfen, vielleicht vier oder fünf Jahre alt, das zurückhaltend lächelnd auf einer Schaukel saß.
    »Die ist ja süß«, sagte sie, und Mrs Murdocks Bleistift hielt inne.
    »Was meinst du?«
    Maggie deutete auf das Foto.
    »Oh ja   … Das ist meine Tochter Lily.«
    Das Bild an der anderen Seite des Tisches überraschte Maggie. Es war gar kein Foto,

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