Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
sondern ein gemaltes Bild von Jesus, eins von der Sorte, die man für fünf Dollar an jeder Tankstelle kaufen konnte, mit einem sehr gut aussehenden blonden Christus in weißen Gewändern, der die Arme weit geöffnet hielt, so als wollte er Mrs Murdock jeden Moment ungestüm umarmen. Normalerweise ignorierte Maggie das religiöse Brimborium hier im provinziellen Süden einfach: im Sommer die Zeltmissionen, im Winter die weihnachtlichen Krippenspiele oder die riesigen Kreuze, die neben den Autobahnen aus den Wiesen aufragten. Sich selbst sah sie als eine Art Buddhistin in der Ausbildung, da sie als Kind nichtgläubiger Eltern geboren, aber dazu erzogen worden war, die Natur zu ehren. Nach allem, was sie in der Bibel so gelesen hatte, war Jesus schon okay, aber sie hatte es noch nie erlebt, dass ein Lehrer Christus mit ins Klassenzimmer brachte. Sie fragte sich, ob der Schuldirektor das wusste.
»Sie mögen Jesus?«, fragte sie.
Mrs Murdock richtete den Blick auf das Bild. »Ja, ich glaube, das kann man sagen.«
»Auf Facebook gibt es jede Menge Fanclubs.«
»Ach, wirklich?«
Maggie sah kein Bild eines Ehemanns auf dem Schreibtisch, keinen Hinweis auf Lilys Vater. Sie warf einen Blick auf Mrs Murdocks ringlose Finger und fragte sich, ob Lily ein Versehen gewesen war oder eine unbefleckte Empfängnis. Aber wahrscheinlich war die Mathelehrerin geschieden undtrug deshalb keinen Ring mehr, was sie in Maggies Augen ein bisschen menschlicher erscheinen ließ.
»Neun«, sagte sie, und Mrs Murdock hörte auf, mit dem Bleistift zu tippen.
»Was?«
»In dieses Feld kommt die Neun rein.«
»Na, sieh mal einer an. Stimmt.« Mrs Murdock trug die Neun ein, dann schloss sie das Buch.
»Weißt du, warum ich dich hergebeten habe, Maggie?«
Maggie zuckte die Achseln. »Ich kann’s mir denken.«
»Was hältst du denn selbst von deiner letzten Klausur?«
Maggie steckte die Hände in die Taschen ihrer Jeans. »Ziemlich mies.«
»
Mies
würde ich nicht sagen.« Mrs Murdock zögerte. »Eher nachlässig. Ich habe mir deine Noten aus der achten Klasse angesehen, die waren hervorragend, und diese Klausur war nicht viel mehr als eine Wiederholung des Stoffes vom letzten Jahr. Hast du eine Ahnung, was das Problem ist?«
Ja,
dachte Maggie.
Sie und Ihr seltsames Verhalten machen mich ganz verrückt.
Doch stattdessen seufzte sie nur. »Ich war irgendwie abgelenkt, die neue Schule und all das.«
»Wir wollen, dass du auch hier an der Highschool so gute Noten hast«, sagte die Lehrerin.
Maggie hasste es, dass Lehrer dauernd den Pluralis Majestatis benutzten, so als wären sie alle eine Horde von Marie Antoinettes.
»Du kannst viel bessere Arbeiten schreiben, glaube ich«, fuhr Mrs Murdock fort, »deshalb möchte ich, dass du die Klausur nächste Woche noch einmal schreibst. Du kannst dir aussuchen, an welchem Nachmittag. Wenn deine neue Note besser ist, dann streichen wir die alte.«
Da war es wieder, das »Wir«, so als würde eine Handvoll Lehrer ihre letzte Klausur in den Müll werfen.
»Danke«, sagte Maggie, auch wenn sie keine Dankbarkeit empfand. Ein C war immer noch besser als eine weitereStunde in dieser deprimierenden Höhle, eingesperrt mit einer Verrückten, die von sich selbst in der Pluralform sprach. Aber trotzdem, irgendwie schien Mrs Murdock nett sein zu wollen, vielleicht weil auch sie zu den Frauen gehörte, die ihr ganzes Leben lang dazu angehalten worden waren, es immer allen anderen recht zu machen. Womöglich sah Mrs Murdock in Maggie eine entfernt verwandte Seele.
»Ich habe am nächsten Donnerstag Zeit«, sagte Maggie.
»Gut – richte dich darauf ein, dass es eine Stunde dauern wird. Soll dich danach jemand nach Hause bringen?«
»Nein. Mein Dad kommt mich bestimmt abholen.«
»Schön. Bis dahin also.«
»Und, was ist passiert?« Kate steckte ihr Handy ein, als Maggie aus dem Klassenzimmer kam.
»Sie hat mir das hier gegeben.« Maggie reichte ihr das rote Sudoku-Taschenbuch, und Kate drehte es in den Händen.
»Was ist Suhdockuh?«
»Japanische Logikrätsel.«
»Oh-kay …« Kate gab ihr das Buch zurück, und die beiden gingen den Korridor entlang. »War das alles, was sie wollte? Dir was schenken?«
»Sie will, dass ich nächste Woche die Klausur wiederhole. Sie streicht mein letztes C, wenn ich beim zweiten Mal eine bessere Note habe.«
»Aber das ist doch super, oder?«
Maggie schüttelte den Kopf. »Es kommt mir irgendwie seltsam vor. Ich meine, wenn Mathelehrer sonst eine
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