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Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Titel: Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Brodie
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Klausur wiederholen lassen, geben sie ein Datum bekannt, und dann kommen alle Schüler zur selben Zeit. Aber Mrs Murdock hat es mir überlassen, wann ich die Klausur schreiben will, so als wäre es eine private Sache nur für mich, und ich weiß, dass auch andere in der Klasse ein C bekommen haben. Arthur Smith hat die Klausur total verhauen
,
und ich glaube nicht, dass er sie noch mal schreiben darf.«
    »Arthur Smith ist ein Arschloch.« Kate zuckte die Achseln. »Das weiß Mrs Murdock wahrscheinlich.«
    »Arschloch hin oder her, er wäre ganz schön angefressen, wenn er wüsste, dass ich eine zweite Chance kriege.«
    »Ich würde es an deiner Stelle keinem erzählen. Nimm’s einfach als einen Glücksfall.«
    »Das habe ich vor.« Maggie stieß die Metalltür auf, die zu einem der Treppenhäuser führte. »Aber es ist trotzdem irgendwie unheimlich. Ich meine, warum hat sie gerade mich herausgepickt?«
    »Glaubst du, sie mag dich?«
    »Was meinst du damit?«, fragte Maggie.
    »Na ja, du sagst, sie beobachtet dich dauernd, wenn du nicht hinsiehst, sie hat dir das da geschenkt«   – Kate wies mit einem Kopfnicken auf das Sudoku-Buch   – »und jetzt kriegst du bei dieser Klausur eine zweite Chance. Vielleicht hat die Dame ja ganz besondere Gefühle für dich?«
    »Du meinst, sie ist lesbisch oder so was?«
    »Es gibt Schlimmeres.«
    Maggie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht   … Sie hat ein Bild ihrer Tochter auf dem Schreibtisch stehen und sogar eins von Jesus.«
    »Vielleicht ist sie einer dieser christlichen Gutmenschen und du bist ihre gute Tat der Woche?«
    Inzwischen hatten sie die Eingangshalle der Schule erreicht und gingen an der Aula vorbei.
    »Wahrscheinlicher ist«, sagte Maggie, »dass die sehr guten Schüler in den Klausuren alle ein A kriegen sollen, damit sie selbst eine gute Bewertung bekommt. Die meisten Lehrer wissen zu Anfang des Schuljahrs wohl ziemlich schnell, wer gut ist und wer nicht. Mrs Murdock hat sich meine Noten aus der achten Klasse angesehen, und sie will, dass ich den Klassendurchschnitt hebe.«
    Sie traten aus dem Gebäude in das strahlende Licht des Herbstnachmittags hinaus. Maggies Dad saß schon wartendauf einer der roten Metallbänke vor der Schule, und als er aufstand, verzog Maggie beim Anblick seines braunkarierten Flanellhemds das Gesicht. Seine Garderobe bedurfte dringend weiblichen Rats, aber das würde sie nicht freiwillig übernehmen. Kate und sie redeten schon seit Monaten davon, dass er sich eine geschiedene Frau suchen sollte, die seine Krawatten auswählen, ihm etwas Anständiges zum Essen kochen und seine Aufmerksamkeit von Maggie abziehen könnte. In den letzten Jahren hatte er sich nur auf ein halbes Dutzend Dates eingelassen, und nie war etwas Festes daraus geworden. Maggie überlegte manchmal, wie er wohl zurechtkommen würde, wenn sie nach der Highschool auszog.
    »Hallo, ihr beiden.«
    »Hallo, Mr Greene.« Kate lächelte. »Wie geht’s?«
    »Prima. Seid ihr noch aufgehalten worden?« Er nahm Maggie den Rucksack von der Schulter, als sie über den Parkplatz auf seinen alten grauen Toyota zugingen.
    »Ich musste nach dem Unterricht noch zu einem Treffen«, erwiderte Maggie, ohne ihn anzusehen.
    »Was für ein Treffen denn?«
    »Mathe-Club.«
    »Ah. Schön, dass du dich für einen Club interessierst.« Er öffnete die Heckklappe des Autos. »Wann trefft ihr euch denn wieder?«
    »Nächsten Donnerstagnachmittag«, erwiderte Maggie. »Da werde ich wohl nicht vor halb fünf rauskommen.«
    »Kein Problem, ich hol dich dann ab.«
    »Klar, ich weiß.«
    Maggies Dad holte sie immer von der Schule ab. Seit dem Kindergarten bestand er mit einer solchen Regelmäßigkeit darauf, dass es bereits zum Streit darüber gekommen war. Während die anderen Mädchen nach dem Unterricht fünf Blocks weit in die Stadt liefen, um sich ein Eis oder einen Kaffee zu kaufen und noch ein bisschen im Park zu sitzen, hatte Maggies Dad sie stets abgeholt und zum Coffee-Shop oderin die Bibliothek gefahren, offenbar vor lauter Angst, dass sie zwischen Punkt A und Punkt B verschwinden könnte. Sie verstand seine Gründe   – ihr Vater war in der einen Nacht, in der seine Frau und seine Tochter ihn wirklich gebraucht hätten, nicht da gewesen, und das versuchte er seither dadurch zu kompensieren, dass er permanent Präsenz zeigte, mehr als alle anderen Eltern. Er kam zu allen Schulkonzerten und -aufführungen, zu jeder Tombola und jedem Kuchenbüfett. Es war Maggie peinlich, einen

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