Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
auf.
«
»Was bedeutet das Ihrer Meinung nach?«, fragte Maggie Dr. Riley in der nächsten Sitzung. »Warum taucht meine Mutter gerade jetzt in meinen Träumen auf?«
»Das musst du dir selbst beantworten.«
»Ich verstehe nicht, warum Sie nicht wenigstens eine Vermutung haben. Freud hat auch Träume gedeutet.«
»Hast du irgendwelche dieser Deutungen gelesen?«
»Ein paar, für die Schule.«
»Findest du, dass er die Träume richtig interpretiert hat?«
Maggie zuckte die Achseln. »Ich glaube, Freud hatte ziemlich verquere Vorstellungen von Frauen.«
»Welchen Wert hat es also, wenn jemand anders deine Träume interpretiert?«
Wert? Maggie hasste dieses Wort. »Zahlt mein Dad Ihnen nicht zweihundert Dollar pro Stunde? Welchen
Wert
hat das?«
»Es ist an deinem Vater und dir, zu entscheiden, ob diese Sitzungen einen Wert haben oder nicht. Die Antworten finden sich alle in deinem Kopf, Maggie. Du musst nur bereit sein, sie herauszulassen.«
»Haben Sie noch nie von der Büchse der Pandora gehört?«, erwiderte sie.
Der Arzt lächelte. »Ich glaube nicht, dass du alle Übel dieser Welt in dir hast.«
Maggie sah auf die herbstlich verfärbten Ahornbäume hinaus, die orangefarben glühten.
Nur ein paar bestimmte Übel
.
Dr. Riley schlug die Manschetten seines Hemdes um und krempelte die Ärmel auf. »Warum erzählst du mir nicht, was dich wirklich quält?«
Maggie fragte sich, wie lange sie wohl schon die Hände rang. Sie musste lernen, diese unbewussten Gesten, die immer ihre Gefühle verrieten, zu kontrollieren. »Morgen muss ich nach dem Unterricht in der Schule bleiben und eine Matheklausur wiederholen, weil meine Note so schlecht gewesen ist.«
»Deine Lehrerin irritiert dich immer noch?«
Maggie nickte. »Erst gestern ist mir wieder was Seltsames aufgefallen … Einer der Jungs ist zu ihr nach vorne an den Schreibtisch gegangen, um ihr eine Frage zu stellen, und sie hat den Kopf gehoben und ihm direkt in die Augen gesehen.Ich war total schockiert. Das macht sie bei mir nie. Also bin ich auch zu ihr nach vorne gegangen und habe ihr irgendeine Frage gestellt. Und wissen Sie was? Sie hat die ganze Zeit, während sie mir antwortete, ihre Unterlagen sortiert, so als wäre sie zu beschäftigt, um auch nur einmal aufzusehen. Finden Sie das nicht auch seltsam?«
»Ich glaube, du lässt dich hier durch die Verschrobenheiten eines Menschen vom Lernen abhalten. Du solltest dich lieber auf den Stoff konzentrieren und nicht so sehr auf deine Lehrerin. Versuch, was zu lernen.«
Na gut, dachte Maggie, und sie beschloss, sich wirklich gleich hinzusetzen, wenn sie nach Hause kam.
Als sie abends im Bett noch einmal ihre Hausaufgaben herausholte, versuchte Maggie, sich in den Zahlen zu verlieren. Sie konzentrierte sich auf die Beziehungen der Geradenabschnitte statt auf die Beziehungen der Menschen. Denn trotz ihres seltsamen Verhaltens hatte Mrs Murdock in einem doch recht: Mord und Totschlag gab es in der Mathematik nicht. Mochten Mathematiker auch beim Bau der Atombombe geholfen oder die Nazis die Zahlen ihres Völkermordes in Tabellen festgehalten haben, der Missbrauch der Mathematik unterschied sich immer noch von den Zahlen als solchen. Diese schwarzen Symbole waren so unschuldig wie das weiße Papier, auf das sie geschrieben wurden.
Maggie schlief mit dem offenen Geometriebuch auf dem Kissen ein, und wieder befand sie sich im Wald und wieder näherte sich ihr über die Wiese langsam eine weibliche Gestalt. Diesmal rief die Frau nicht nach ihr. Sie war genauso still wie Maggie, ihre Füße glitten lautlos über das Gras, und als Maggie diese lautlosen Füße ansah, waren sie weder nackt noch blutbefleckt. Sie steckten in bequemen Sandalen unter einem knielangen Rock.
»Wach auf«, sagte Maggie zu sich selbst. »Mach, dass du hier rauskommst.« Aber sie konnte nicht aufwachen. Sie war verdammt dazu, die Bewegungen einer seltsam roboterartigwirkenden Mrs Murdock zu beobachten, die Begriffe aus der Geometrie vor sich hin murmelte: »Kollinear … koplanar … Perspektive-Theorem.« Seltsamerweise ging die Frau nicht direkt auf Maggie zu. Sie näherte sich dem Wald in einiger Entfernung, ohne je in die Richtung des Mädchens zu sehen. Und als sie die Bäume erreichte, trat sie, ohne zu zögern, in deren Schatten und verschwand in der Dunkelheit, als ob auch sie einen Platz brauchte, um sich zu verstecken.
Am nächsten Morgen war Maggie zu unruhig, um zu frühstücken, und mittags gab
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