Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
Wort ›Hure‹ sagten. Danach fühlten sie sich dann allerdings veräppelt, weil es keine Sexszenen gab.«
Die E-Mail landete, begleitet von zwei dünnen hohen Tönen, die in Maggies Ohren klangen wie ein »O-oh«, im Posteingang.
»Die ist von deiner komischen Mathelehrerin«, sagte Kate.
»Nicht aufmachen!« Maggie richtete sich kerzengerade auf.
»Zu spät … Keine Sorge, sie ist ganz kurz und harmlos. Da steht nur, dass sie mit dir reden will. Das hätte sie dir eigentlich auch persönlich sagen können. Ich meine, ich habe noch nie eine Mail von einem Lehrer gekriegt.«
Maggie zuckte die Achseln und tat so, als wäre sie völlig gefesselt von der neuesten Ausgabe der ›Vogue‹, die Kate als Genesungsgeschenk mitgebracht hatte. »Ich hab dir doch gesagt, dass sie seltsam ist.«
»Dann kann ich das also löschen?«
»Klar.«
Kate begann, ein fünf Minuten langes Video herunterzuladen. »Gehst du zum Homecoming-Spiel heute Abend?«
»Wie kann ich zum Footballspiel gehen, wenn ich die Schweinegrippe habe?«
Kate drehte sich um und sah Maggie an. »Aber du gehst doch auf den Ball morgen, oder? Du
musst
auf den Ball gehen.«
Maggie ließ sich wieder in die Kissen fallen und starrte zu Johnny Depp hinauf. »Warum sollte ich auf den Ball gehen? Ich hab ja nicht mal einen Begleiter.«
»Auf den Homecoming-Ball geht man doch sowieso als Gruppe. Holly und Beth kommen zum Abendessen zu mir, und dann brezeln wir uns alle zusammen auf. Du
musst
kommen! Das Kleid, das du vor zwei Wochen gekauft hast, ist heiß. Und du weißt doch, dass Mike auch da sein wird.«
Maggie hatte zwar null Interesse an Bällen, aber einer der älteren Schüler, die als Schulkönig nominiert waren, Mike Hodges, wohnte nur drei Häuser weiter, und sie hoffte, dass er beim Footballspiel gekrönt werden würde. Er war den ganzen Sommer über sehr nett zu ihr gewesen. Einmal hatte er sie sogar zu sich nach Hause eingeladen, sein Labor anzusehen – was sie für eine Art Anmache gehalten hatte, nach dem Motto: »Komm doch mit in den Keller, dann zeig ich dir meinen Vulkan.«
Maggie war allerdings enttäuscht gewesen, als Mike sie bis zum Ende des Sommers nicht ein einziges Mal angerührt hatte. Er war ihr nicht mal nahe genug gekommen, um den Duft ihres Haars wahrzunehmen, das sie extra für ihn mit Kokos-Shampoo gewaschen hatte. Bloß die Tür zum Keller hatte er ihr aufgehalten, als sie die fünf Stufen in die kühle, feuchte Luft hinabstiegen. An den Betonwänden lehnten Gartengeräte, und in den Regalen, aus Ziegelsteinen und Holzbrettern selbst gebaut, standen Dutzende halb leerer Farbkanister. In der Mitte des Kellers waren auf Sperrholzplatten, die auf Holzböcken lagen, eine ganze Reihe von Experimenten aufgebaut: von elektrischen Stromkreisläufen über ein Labyrinth für Wüstenrennmäuse bis hin zu Maggies Lieblingsversuch – einer Landschaft aus Quarzkristallen, die Mike seit vier Jahren wachsen ließ. Die erinnerte sie an den Bryce Canyon in Utah und die Reise Richtung Westen, die sie mit ihrem Dad gemacht hatte, als sie zehn war. Es war eine Welt aus fünf Zentimeter hohen Kristallsäulen, die rot und golden glitzerten, wenn Mike einen Schalter anknipste und an der Decke Hunderte kleiner batteriebetriebener Weihnachtskerzen aufleuchteten. Bei den Lichtern musste Maggie immer an Ralph Ellisons ›Der unsichtbare Mann‹ denken, 1369 Glühbirnen im Keller eines Wahnsinnigen, aber das sagte sie nicht laut.
Mike sollte nicht wissen, dass sie viele der Klassiker in den Bücherregalen ihrer Mutter gelesen hatte – alle Bücherder Brontë-Schwestern sowie die Dickens- und Austen-Bände, auf deren Rückseite der gelbe Schriftzug DOZENTENEXEMPLAR, NICHT FÜR DEN VERKAUF prangte. Sie war mit dem Finger über die Notizen ihrer Mutter am Seitenrand von ›Stolz und Vorurteil‹ gefahren – hingekritzelte Gedanken über Frauenbildung, die Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft und die Französische Revolution. Sogar ein paar Kapitel Tolstoi und Dostojewski hatte sie gelesen. Aber warum sollte sie Mike Hodges davon irgendetwas erzählen? Vielleicht mochte ein Naturwissenschaftsfreak keine Literaturfreaks.
»Na gut, ich geh mit auf den Ball«, sagte Maggie zu Kate, »wenn mein Dad nichts dagegen hat.«
»Komm zu mir zum Abendessen, okay? Ich werde dich ein bisschen schminken.«
Maggie verdrehte die Augen. Kate fuhr den Computer herunter und griff nach der ›Vogue‹. »Was meinst du, worüber Mrs Murdock mit dir
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