Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
reden will?«
»Keinen Schimmer.« Maggie hatte ihrer Freundin nichts vom letzten Dienstagnachmittag erzählt – wie sie weggerannt war, nachdem sie erkannt hatte, dass Mrs Murdock ebenjene College-Studentin war, deren hohes Lachen damals vor neun Jahren vom Bach hinter dem Haus zu ihr heraufgeweht war. Maggie hatte nicht vor, es irgendjemandem zu erzählen – das hatte sie zumindest am ersten Tag, den sie von der Schule zu Hause geblieben war, beschlossen. »Ruh dich etwas aus«, hatte ihr Dad zu ihr gesagt. »Du arbeitest zu viel.« Ihr bleiches Gesicht und ihr Verlangen, schnellstens nach Hause zu kommen, hatten ihn beunruhigt. Sie hatte nicht eine Silbe der Erklärung von sich gegeben; die letzten neun Jahre hatten ihrem Vater genug Leid beschert, sodass Maggie ganz instinktiv bemüht war, den Schaden zu begrenzen. Inzwischen versuchte sie, ihrem Vater nur noch gute Nachrichten zu überbringen: hervorragende Zeugnisse und Auszeichnungen, keine Karieslöcher beim Zahnarzt, kein Krebs beim Allgemeinarzt.Sie beanspruchte kaum Geld für Kleidung oder elektronische Geräte, und sie belastete ihn auch nicht mit den Alltagsschwierigkeiten in der Schule, denn sie war der Auffassung, dass die meisten ihrer Probleme sowieso wieder verschwinden würden, wenn sie nur lange genug wartete.
Aber Mrs Murdock würde nicht wieder verschwinden. Sie erschien ihr unverrückbar, wie eine Wand, gegen die Maggie jeden Tag in der letzten Stunde krachen würde. Und was konnte ihr Vater daran schon ändern? Sie auf eine andere Schule schicken? Die staatlichen Highschools in erreichbarer Nähe waren drogenverseucht und von miesem Unterrichtsniveau, und Privatschulen waren zu teuer und zu weit weg. Ihr Dad könnte darauf bestehen, dass Maggie einen anderen Mathelehrer bekam oder Mrs Murdock gefeuert wurde, was aber nur peinlich wäre. So oder so würde dann die Vergangenheit aufgerührt werden, und jeder an der Schule würde wieder über ihre familiären Probleme tratschen.
Und Maggie hatte am ersten Tag, den sie von der Schule zu Hause geblieben war, auch beschlossen, Kate nichts davon zu erzählen. Ihre Freundschaft beruhte auf dem Einvernehmen, dass sie über die Vergangenheit nicht redeten – was Maggie mit am meisten schätzte. Andere Mädchen, die Maggie in den letzten Jahren zu Hause besuchen kamen, hatten unangenehme Fragen gestellt. Wo ist deine Mom? Was ist passiert, als du klein warst? Warum gehst du zu einem Therapeuten? Sie waren noch zu klein gewesen, als sich vor neun Jahren der Fall der Familie Greene vor aller Augen entfaltete. Vorschüler lasen keine Zeitung – diese farblosen rätselhaften Geschichten für Erwachsene –, und ihre Mütter hatten die Fernseher und Radios ausgeschaltet, wenn von Gewalt die Rede war. Und so waren Maggies erste Freundinnen glücklicherweise ahnungslos gewesen und hatten sich mehr für Fahrräder, Barbies und Welpen interessiert als für die schmutzigen Einzelheiten des Lebens anderer Leute.
Die Neugierde kam später, in der Grundschule, als dieKinder begannen, Fragmente des Wissens der Erwachsenen aufzuschnappen. Ihre Eltern erzählten mit gesenkter Stimme verzerrte Versionen der Wahrheit, einzelne Splitter, die irgendwann mal in der Zeitung von Jackson gestanden hatten. College-Professoren erinnerten sich an Details aus der ›Washington Post‹ und Szenen mit Reportern, die vor Maggies altem Zuhause einen Medienzirkus veranstaltet, ihre Übertragungswagen mit den Satellitenschüsseln im Gras am Straßenrand geparkt und die Berge, den Bach und die Veranda gefilmt hatten, während ihr Dad diese Meute hinter heruntergelassenen Jalousien wüst beschimpft hatte. In einer Stadt mit achttausend Einwohnern kannten die meisten Leute irgendeine Version der Geschichte, und jahrelang hatte Maggie die forschenden Blicke von Ladenbesitzern und Angestellten ertragen, deren Klatsch und Tratsch in den Worten ihrer Kinder wieder auftauchte und Geburtstagsfeste und Pyjama-Partys überschattete.
Kate hatte zu diesen Schatten allerdings nie beigetragen. Sie schien instinktiv zu begreifen, dass manche Teile des Lebens schmerzvoll sind und nicht angerührt werden sollten. Maggie vermutete, dass die Sensibilität ihrer Freundin von deren eigener schwieriger Kindheit herrührte. Katerina Poroskowa war die Tochter einer alkoholsüchtigen unverheirateten Minderjährigen und im Alter von zwei Jahren in einem russischen Waisenhaus abgegeben worden. Dort war sie von halbwüchsigen Rowdys gequält
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