Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
worden, bis eines Tages eine kinderlose Amerikanerin, die eigentlich ein Baby adoptieren wollte, sah, wie Katerina auf einer Bank saß und schweigend die Stöße und Knuffe eines dürren Teufels mit Igelfrisur erduldete. Ob sie wohl mit diesem kleinen Mädchen mal spazieren gehen dürfte, hatte sie gefragt.
Dem Sturm einmal entronnen, hatte sich das defensive Kind in ein gesprächiges kleines Mädchen verwandelt, das zwei Monate später in den Montessori-Kindergarten von Jackson kam. Immer noch schrecklich schüchtern, aber staunendhatte sie das Zimmer betreten, in dem die Jungen und Mädchen lasen, malten und mit roten Bauklötzen Türme bauten, ohne einander zu treten und zu schlagen.
Maggie hatte schon über Kates Herkunft Bescheid gewusst, bevor das Mädchen überhaupt in Amerika ankam, denn Kates verwitwete Adoptivmutter Sarah unterrichtete englische Literatur am Holford College und hatte ein Büro gleich gegenüber dem von Maggies Mutter gehabt. Sie hatte Emma stets über alle Entwicklungen in Russland auf dem Laufenden gehalten – die Korruption und Bestechung, das versprochene Baby, das nie auftauchte, das süße kleine Mädchen, das gerettet werden musste.
»Sei lieb zu der Kleinen, sie spricht kein Englisch«, hatte Emma Maggie gebeten, als sie Kate und ihre Mom zum ersten Mal zu sich nach Hause einlud. Die dreijährige Maggie hatte sich gefragt, wie ein russisches Mädchen wohl aussehen mochte. Würde sie stahlblaue Augen wie ein sibirischer Husky haben?
Nein, Kate hatte sanfte braune Augen, und es war einfach gewesen, lieb zu einem Mädchen zu sein, das sich über alles freute. Kate war entzückt gewesen von dem Bach hinter Maggies Haus, war in ihren lila Crocs darin herumgestapft und hatte versucht, mit bloßen Händen die kleinen Fische zu fangen. Sie war entzückt gewesen von Maggies Puppenhaus und den Bauklötzen und dem blauen Mondsand, und sie war dankbar gewesen für jeden einzelnen Keks und Apfel. Im Laufe eines Jahres war ihre knochige Gestalt »erfreulich pummelig« geworden, und Maggies Mom nannte Kate scherzhaft Scarlett, weil das Mädchen ebenso entschlossen wie die Romanheldin war, nie wieder Hunger zu leiden.
Kate und Maggie waren beste Freundinnen geworden, aber Freundinnen, die sich nicht über tiefgreifende Themen unterhielten. In der Schule hatte sich ihr ernsthaftestes Gespräch um ›Schwanensee‹ gedreht und darum, ob es für einen Menschen nicht besser wäre, sein halbes Leben alsVogel zu verbringen. Kates Mutter kaufte aus Achtung vor der russischen Herkunft ihrer Tochter dauernd Karten für Tschaikowsky-Ballette, lieh den Film ›Doktor Schiwago‹ aus oder versuchte, ihre Tochter dazu zu bewegen, Tschechow oder ›Anna Karenina‹ zu lesen, auch wenn Kate nie über den ersten Absatz hinauskam.
Alle glücklichen Familien ähneln einander,
dachte Maggie, als sie ihre Freundin jetzt ansah, die die Modefotos in dem Hochglanzmagazin betrachtete. Dann warf sie einen Blick quer durchs Zimmer und sah ihr eigenes Gesicht im Spiegel –
jede unglückliche Familie ist auf ihre Art unglücklich
.
Nein, Maggie würde Kate nicht von Mrs Murdock erzählen – oder jedenfalls so lange nicht, bis sie einen eigenen Plan hatte. Vorerst würde ihr einziger Vertrauter Dr. Riley sein, das leere Gefäß, in das sie Tausende von Gedanken schüttete. Bei ihm konnte sie sicher sein, dass er ihrem Dad die bizarre Neuigkeit so lange vorenthielt, bis die Zeit reif dafür war.
Dr. Riley würde sie allerdings drängen, etwas zu tun. »Sprich mit Mrs Murdock«, würde er insistieren. »Hör dir an, was sie zu ihrer Rechtfertigung zu sagen hat, und entscheide dann, wie du reagieren willst.« Im Moment konnte Maggie sich das noch nicht einmal vorstellen. Ihr einziger Impuls war, diesem Gesicht, dieser Stimme, diesem dunklen Schatten mit dem lautlosen »Tut mir leid« auf den Lippen auszuweichen. Gestern Nacht war die Lehrerin wieder in ihren Träumen aufgetaucht, immer noch mathematisches Zeug vor sich hin brabbelnd, sodass Maggie aufgewacht war, die Bettdecke über ihren Kopf gezogen und sich ganz klein zusammengerollt hatte.
Aber lange konnte sie sich nicht mehr verstecken. Heute Morgen hatte sie mitangehört, wie ihr Dad ihren Hausarzt angerufen und ihm ihre Schweinegrippe-Geschichte erzählt hatte. Er hatte einen Termin für Montag um 13 Uhr gemacht, was bedeutete, dass Maggie wieder zur Schule gehen musste.Sonst würde ihr Dad fünfunddreißig Dollar Zuzahlung beim Arzt leisten
Weitere Kostenlose Bücher