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Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Titel: Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Brodie
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hast genau sechzig Sekunden Zeit, um hier in meinem Büro aufzuschlagen, ehe ich deine Eltern anrufe, und zwar von jetzt an. Eins   … zwei   … drei   …«
    »Carvers Klassenzimmer«   – so nannten die Lehrer das Büro des Polizisten. Die Schüler brachten ihre Aufgaben mit und arbeiteten schweigend unter Carvers Blick für den Rest der Unterrichtsstunde, gelegentlich gemeinsam mit den besonders aufsässigen Missetätern, die den ganzen Tag im Schularrest verbringen mussten. Ehe sie zu ihrem normalen Stundenplan zurückkehrten, forderte Carver jeden Schüler auf, in fünf Sätzen aufzuschreiben, was er oder sie in Zukunft zu tun gedenke. Und Carver stand Rechtschreib- und Grammatikfehlern genauso intolerant gegenüber wie Drogen und Tabak. Hatten sie sein Beharren auf absolutes Schweigen und perfekte Zeichensetzung erst einmal erlebt, wollten die meisten Schulhäftlinge niemals wiederkommen.
    Carver trat in die Eingangshalle, spazierte an Cafeteria und Turnhalle vorbei zum hinteren Eingang der Schule, stieß die Tür mit einer Hand auf und war draußen im herrlichen Sonnenschein. Er konnte es dem Mädchen nicht verdenken, dass sie an einem Tag wie diesem die Schule frühzeitig verlassen wollte   – fünfundzwanzig Grad, ein klarer Herbsthimmel undeine Luft, die sauber roch. Die frische Luft schätzte Carver am allermeisten, da sein Büro direkt neben der Cafeteria lag und sich darin jahrzehntelang die fettigen Gerüche von Bratkartoffeln und Hähnchen-Nuggets gesammelt hatten. Geöffnete Fenster und Unmengen von Raumspray hatten dem fettigen Geruch nur eine leicht zimtige Note verliehen. Carver duschte jeden Tag erst einmal, wenn er nach Hause kam, und warf seine Uniform sofort mit einem vollen Becher Pulver in die Waschmaschine.
    Nachdem ein Jahr vergangen war, erklärte Carver Chief Miller, dass er eine spezielle Uniformzulage benötige, weil seine Hemden vom vielen Waschen bereits fadenscheinig wurden. Erstaunlicherweise hatte Miller ihm zugestimmt, wohl weil er wusste, dass Carver peinlich genau auf Körperpflege achtete   – er war die Sorte Mann, dem eine regelmäßige Rasur, ordentlich geschnittenes Haar und saubere Fingernägel wichtig war. Der fettige Geruch an seinem Hemdkragen widerte Carver besonders an, weil er die schlimmsten Stereotype über Schwarze fortschrieb   – dass sie schmutzig wären und zur Unterschicht gehörten. Er hasste es, wie ein Jugendlicher zu riechen, der bei McDonald’s arbeitete.
    Als Carver jetzt über die Außenlinie des Fußballfeldes ging, konnte er das Dach des Bezirksgefängnisses sehen, eine Viertelmeile die Straße hinunter. Das Gefängnis war ein weiterer Teil von Carvers Show. Er nutzte es für eine spezielle Methode, die er Wiederholungstätern gegenüber anwendete: »Dreimal hier, und du bist dort.« Nach drei Besuchen im Schularrest musste ein Schüler Officer Carver Petty nach dem Unterricht zusammen mit seinen Eltern auf eine ganz besondere Schulexkursion begleiten   – ins Gefängnis, »um schon mal eine Zelle für dich zu reservieren«, wie Carver dann sagte. Nach Besichtigung der komfortablen Räumlichkeiten, des Essens und des Innenhofs gab Carver den Eltern eine Kopie der Sätze, die der Schüler über seine Pläne für die Zukunft geschrieben hatte. »Das will Ihr Kind mit seinem Leben anfangen«,sagte er. »Aber das hier«   – mit einer Geste auf den Stacheldrahtzaun   – »ist, worauf es zurzeit hinausläuft.«
    Einige Eltern beschwerten sich beim Schuldirektor über den neuen Polizeistaat an der Schule, und einige Schüler hörte man »Nigger-Nazi« vor sich hin murmeln, aber Carver erzielte Ergebnisse. Am Ende seines ersten Schulhalbjahrs war die Anzahl der Schüler, die im Schularrest landeten, von einem alle Viertelstunde auf einen alle drei Stunden gesunken. In den Korridoren fanden kaum noch Schlägereien und Knutschereien statt, und selbst die Noten profitierten leicht, was Carver auf die verbesserte Disziplin im Unterricht zurückführte, auch wenn manche Lehrer das anders sahen.
    Als sein Vertrag nach drei Jahren endete, beschloss Carver, weiterzumachen. Er hatte an der Schule eine Atmosphäre geschaffen, mit der er leben konnte, und er wusste, dass kein anderer Polizist auch nur halb so viel Mühe investieren würde. Außerdem hatten die Schüler ihm eine Seite im Highschool-Jahrbuch gewidmet, die er eingerahmt und an der Wand hinter seinem Schreibtisch aufgehängt hatte. Mittlerweile sah sich Carver als oberste Instanz

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