Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
Langsam streckte die Frau Emma ihre flachen Hände entgegen, so als wollte sie dieser seltsamen Fremden in ihrem Haus das Blut anbieten, und Emma sah in diesen tropfenden Händen ihre eigenen blutigen Hände, mit denen sie dem sanften Deputy die ruinierten Geschirrhandtücher hingehalten hatte.
»Die Polizei ist auf dem Weg.« Michelle stand in der Tür und starrte auf die übel zugerichtete Nase ihrer Nachbarin.
»Komm und hilf mir, das Blut ein wenig wegzuwischen.« Emma winkte Michelle heran.
»Das geht Sie alles gar nichts an«, brüllte der Mann. »Verlassen Sie beide sofort mein Haus.« In diesem Moment sah Emma den Jungen, der oben am Treppenabsatz saß und schweigend zusah. Elf Jahre alt vielleicht, dachte sie. Oder auch zwölf.
»Sie sollten besser den Mund halten.« Emma sprach über ihre Schulter hinweg mit dem Mann, während sie und Michelle die Nachbarin zum Badezimmer führten. »Sie haben bereits Ihren Sohn aufgeweckt.«
Emma hatte erwartet, dass der Mann schweigen würde. Die meisten Väter konnten sich in der Gegenwart von Nachbarn und kleinen Kindern zusammenreißen. Doch obwohl dieser Mann einen kurzen Blick auf die Treppe warf, senkte er die Stimme kein bisschen.
»Mein Sohn geht Sie gar nichts an.«
Was hatte dieser Kerl intus? Kokain? Amphetamine? Emma konnte Alkohol riechen, aber es musste noch etwas Stärkeres sein, das ihn derart gereizt machte.
»Verschwinden Sie verdammt noch mal aus meinem Haus«, schrie er und fügte noch hinzu: »Schlampe.«
Da war es wieder, dachte Emma. Das harsche Wort, das die bittersten Augenblicke ihres Lebens untermalt hatte wie ein Stakkato: verrückte Schlampe, blöde Schlampe. Das Wortwar zu einer Alarmglocke geworden, die in ihrem Kopf widerhallte, deren hässlichem Klang man nicht entrinnen konnte, omnipräsent im Fernsehen, in Kinofilmen und im Internet, manchmal nannten auch die Frauen im Wohnheim einander so, als wäre »Schlampe« gleichbedeutend mit »Frau«, aber das war es nicht.
Emma drehte sich langsam zu dem Mann um und setzte ihr kältestes Lächeln auf. »Oooohh«, raunte sie ihm mit verführerisch gesenkter Stimme zu, »jetzt flirten Sie also mit mir?« Sie stieß ein helles Lachen aus, als sie näher auf ihn zutrat. »Was für ein beeindruckender Mann Sie doch sind. So ein guter Ehemann und Vater. So rücksichtsvoll und so eloquent. Ihr Sohn«, mit einem Kopfnicken wies sie zur Treppe, »muss sehr stolz auf Sie sein.«
Sie war auf seine Faust gefasst gewesen, oder vielleicht auch seine flache Hand, und dachte, dass es nun wohl so weit wäre, einmal auszuprobieren, was sie in fünf Jahren Karate-Unterricht gelernt hatte und ob ein schwarzer Gürtel einer zierlichen Frau mittleren Alters tatsächlich etwas nützte. Emma war regelmäßig zum Training ins Dojo am Ende der Straße gegangen, in der sie wohnte, seit ein großer Mann sie einmal einen Block von Kelly’s House entfernt auf dem Gehweg zu Boden gestoßen hatte. Er hatte ihr weder die Handtasche gestohlen noch sie sonst irgendwie angegriffen, sondern war weitergegangen, als wäre nichts passiert – er hatte einfach eine kleine blöde Frau aus dem Weg geräumt. Emma wäre ein ganz gewöhnlicher Straßenraub lieber gewesen, etwas mit materiellen Beweggründen, das nicht so sehr an die Rempeleien zwischen Jugendlichen erinnerte. Zweimal in ihrem Leben war sie zu Boden gestoßen worden, und es war nicht die äußerliche Verletzung gewesen (ein paar blaue Flecken an Armen und Knien), sondern die innere Empörung, die sie zwei Tage danach zu dem Sensei gehen ließ. Seitdem hatte sie das Karatezentrum so regelmäßig aufgesucht wie andere Frauen die Kirche.
Versuch’s doch,
hatte Emma gedacht und den aufgeputschten Mann angestarrt.
Versuch doch, mich niederzuschlagen.
»Immer bringst du dich in solche Situationen!«, hatte Maggie sie unterbrochen, als Emma die Geschichte erzählte. »Ich bin die Einzige in der Schule, deren Mom dauernd blaue Flecken hat.«
»Ich bringe mich nicht selbst in Gefahr«, hatte Emma erwidert. »So etwas passiert einfach … Na ja, Junot hat dann jedenfalls die Situation gerettet.«
Sie konnte sich noch lebhaft erinnern, wie ein dunkelhaariger Sergeant mit dem Namensschild RODRIGUEZ durch die Tür dieses kalten weißen Hauses getreten war und gerufen hatte: »Halt, Leute, immer mit der Ruhe!«
Es hatte Emma überrascht, dass die Polizei so schnell eintraf; sie war eher daran gewöhnt, dass sie gar nicht auftauchte oder erst nach einer halben
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