Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
bereits eine Hemmschwelle überschritten. Es ist ihm scheißegal, was die Nachbarn denken oder was sein Sohn zu sehen bekommt, und das ist ein ernstes Warnzeichen. Die meisten Männerdieser Schicht wären entsetzt, wenn sie ihrer Frau die Nase gebrochen hätten. Sie wären zerknirscht und würden um Verzeihung bitten, aber dieser Kerl zeigt keine Reue – so als hätte er sowieso nichts mehr zu verlieren.«
»Was sollen wir da tun, wenn die Frau nicht kooperiert?«
»Was ist mit einer Anklage wegen Drogenbesitzes? Er hat eindeutig irgendetwas intus.«
»Es gibt keine konkreten Hinweise auf Drogenkonsum, und wir haben keinen Durchsuchungsbefehl.«
»Die Frau«, Emma zeigte auf das Haus, »schwebt in unmittelbarer Gefahr.« Aber an der Miene des Sergeants konnte sie ablesen, dass er keine Gefahr sah in Cleveland Park. Gefahr herrschte in Anacostica oder in der South Capital Street, in Stadtvierteln ohne Gartenpavillons und gedüngten Rasen.
»Ich werde morgen früh noch einmal vorbeischauen«, versuchte der Sergeant Emma zu beschwichtigen. »Jetzt müssen sich erst einmal alle beruhigen und etwas Schlaf kriegen.«
Als der Polizeiwagen davongefahren war, sah Emma, wie in dem Haus nebenan die Vorhänge zugezogen wurden.
Zurück zu Hause in Dupont Circle konnte sie kaum schlafen, immer wieder sah sie die blutigen Handflächen der Frau, ausgestreckt wie die Hände Christi. Um halb sechs kam der Anruf, den sie schon erwartet hatte. Michelle war am Apparat, von Panik erfasst, nachdem sie von Pistolenschüssen im Haus nebenan geweckt worden war. Michelle hatte die Polizei gerufen, aber offenbar war sie nicht die Erste gewesen. Es war bereits Sirenengeheul zu vernehmen, und hier und dort in der Straße traten Nachbarn in Bademänteln aus ihren Häusern.
»War die Frau tot?«, hatte Maggie gefragt, als Emma mitten in der Geschichte innehielt.
»Ich hatte erwartet, dass alle tot sind – die ganze Familie«, sagte Emma. Aber laut Michelles Nachbarn, und das wurde später von der ›Washington Post‹ bestätigt, hatte der zwölfjährigeSohn, der nicht schlafen konnte, seinen Vater um fünf Uhr morgens ins Arbeitszimmer gehen sehen. Durch einen Türspalt beobachtete der Junge, wie sein Vater ein Holzkästchen aus der untersten Schreibtischschublade holte und es mit einem kleinen Schlüssel aufschloss. In dem Kasten lagen zwei Pistolen, die der Junge schon einmal gesehen hatte – an seinem zehnten Geburtstag hatte sein Vater ihm beigebracht, wie man sie lud und entlud, sauber machte und überprüfte, ob der Sicherungshebel gedrückt war. Nachdem sein Vater eine herausgenommen und mit ein paar Kugeln geladen hatte und danach gegangen war, ohne den Kasten abzuschließen, schlich der Junge ins Arbeitszimmer und tat genau das Gleiche wie sein Vater, bevor er sich auf die Suche nach ihm machte. Er fand seinen Vater schließlich im Schlafzimmer, wo er neben seiner schlafenden Frau stand, und als der Mann die Pistole heben wollte, schoss der Junge auf ihn – einmal in die Schulter, und als sein Vater sich nach ihm umdrehte, noch einmal in die Brust und in den Magen. Der Junge war der Erste gewesen, der den Notruf gewählt hatte. Später erzählte er der Polizei, dass er nicht wusste, ob sein Vater seine Frau oder sich selbst erschießen wollte, eine Frage, die den Jungen sein Leben lang quälen wird, dachte Emma.
Emmas Interesse an der Geschichte hätte hier geendet, wenn es nicht zwei Tage später, als sie über einen weiteren der vielen Förderanträge gebeugt an ihrem Schreibtisch saß, an ihrer Bürotür geklopft und Sergeant Rodriguez in Jeans und Freizeithemd vor ihr gestanden hätte. »Darf ich hereinkommen?«, hatte er gefragt.
Emma stand von ihrem Stuhl auf und deutete auf ihr brandneues blaues Sofa. »Bitte.«
Er war gekommen, um sich zu entschuldigen – um ihr zu sagen, wie leid es ihm tat, dass er ihren Rat nicht ernster genommen hatte. Er hätte die Mutter und den Sohn aus dem Haus schaffen müssen.
Emma schüttelte den Kopf. »Sie wären schnell wieder dortgelandet, wenn die Mutter nicht bereit war, sich von ihrem Mann zu trennen.«
»Aber es hätte die angespannte Situation für diese Nacht entschärft«, sagte der Sergeant.
»Und die Eskalation auf eine andere Nacht verschoben«, erwiderte Emma.
Der Mann schwieg eine Weile und betrachtete Emmas Wände. Sie drängte ihn nicht. Zeugen brauchten nach traumatischen Ereignissen oft Zeit, um Worte zu finden. »Als ich am nächsten Morgen in das
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