Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
Haus kam«, begann Sergeant Rodriguez, »und den Jungen mit seiner Mutter auf dem Sofa sitzen sah, dachte ich, dass ich das hätte tun sollen, was er getan hat – auch wenn ich den Mann nicht getötet hätte, nur gestoppt. Ich habe den Jungen meine Arbeit machen lassen, und jetzt muss er damit leben, dass er seinen Vater ermordet hat.«
»Er wird aber auch wissen, dass er seine Mutter beschützt hat«, sagte Emma.
Sergeant Rodriguez erwiderte nichts darauf. Er schüttelte nur den Kopf und sagte: »Ich habe den Mann für nicht so gefährlich gehalten. Er schien sich beruhigt zu haben, als ich ging.«
Und da verlor Emma plötzlich die Geduld mit diesem Polizisten. Er verschwendete nur ihre Zeit. Das hatte sie alles schon zu oft gehört – die Reue von Familienmitgliedern, die es nie kommen sahen, von Freunden, die blaue Flecken bemerkt und Streit mit angehört hatten, sich das Schlimmste aber nie vorstellen konnten. Etwas Nachgiebiges und Hoffnungsvolles in der menschlichen Natur machte sie blind für die drohende Tragödie, sie sahen nur die Möglichkeit einer Besserung. Es war Emma, die immer mit dem Schlimmsten rechnete, die den Tod in jeder Ecke lauern sah und seinen Pessimismus tiefe Furchen in ihre Seele ziehen ließ. Und so hätte sie auch jetzt am liebsten die Naivität aus diesem Mann herausgeschüttelt oder zumindest die Achseln gezuckt und gesagt: »Einer weniger.«
Dennoch bat sie ihn nicht, zu gehen, denn es war höchst ungewöhnlich, einen Polizisten sein Bedauern ausdrücken zu hören. Emma erwartete von einem Großstadtpolizisten, dass die unerfreulichen Seiten seines Jobs ihn hart gemacht hatten, aber irgendetwas in diesem Haus in Cleveland Park musste ihn irritiert haben. Sie fragte sich, welche Details die Zeitungen ausgespart hatten – ob der sterbende Mann noch ein paar eindringliche Worte gesprochen hatte oder ob etwas an der Gewalttätigkeit des Jungen und der hilflosen Ergebenheit der Mutter auf Familienstrukturen hingedeutet hatte, die sich immer wiederholten. Emma sah in Sergeant Rodriguez’ aufgewühltem Blick eine Fähigkeit zu leiden, die in starkem Kontrast zu der offensichtlichen körperlichen Stärke dieses Mannes Ende dreißig stand, und dachte bei sich:
Na dann, willkommen in meiner Welt.
Doch laut fragte sie einfach nur: »Wie heißen Sie mit Vornamen?«
»Junot«, erwiderte er.
»Wie die römische Göttin?«
»Nein – wie der Schriftsteller, Junot Diaz. Der, der den Pulitzer-Preis bekommen hat.« Emma lächelte über ihre eigenen Vorurteile. Sie hatte nicht erwartet, dass ein Polizist irgendeinen Pulitzer-Preisträger kannte.
»Also gut, Junot Rodriguez, haben Sie Lust, einen Kaffee mit mir trinken zu gehen?«
Damals hatte sie nicht nur einen Geliebten gefunden, sondern auch einen Bodyguard. Nachdem Junot sich einen Eindruck von ihrer Arbeit gemacht hatte, bestand er darauf, dass das Heim einen starken Mann brauchte, der über öffentliche Autorität verfügte. Er kam, wenn Nächte schwierig zu werden drohten, brachte Matte und Schlafsack mit und kampierte auf dem Boden ihres Büros wie ein gewissenhafter Pfadfinder. Emma verstand seine Beweggründe, das gleiche Verhalten hatte sie schon bei ihrem Exmann beobachtet. Weil Junot der Frau in Cleveland Park keine Sicherheit hatte gewährleisten können, hatte er beschlossen, für die Sicherheitvon Emma Greene zu sorgen. Es war eine berührende Geste, auch wenn Emma bezweifelte, dass Schuldgefühle eine solide Grundlage für eine langlebige Beziehung sein konnten.
Ruth klopfte noch einmal an Emmas Tür.
»Sergeant Rodriguez ist da.«
Emma zog ihre Bluse über die Hüften und versuchte, die Falten, wenn schon nicht aus ihrem Gesicht, so doch aus ihrer Kleidung zu streichen. »Schicken Sie ihn herein.«
Ein Geruch von Kokosnuss und Kreuzkümmel umwehte Junot, und er stellte zwei weiße Papiertüten auf ihren Sofatisch.
»Ich habe dein Lieblingsgericht mitgebracht, gelbes Curry.«
Als sie ihm einen Kuss auf die Wange gab, atmete Emma tief ein. Sie wusste, dass Junot ein ganzes Geruchsbüfett bereithielt, Anklänge an feuchtes Leder und stark gewürztes Essen, stets wechselnde Shampoos und leicht süße Eau de Colognes. Heute roch er nach Kiefern, Kardamom und Chilipfeffer.
»Rechnest du mit einer schlimmen Nacht?«, fragte er, als er die Schachteln öffnete.
»Carlos Cortez«, erwiderte Emma und holte Pappteller und Plastikbesteck aus ihrem Wandschrank. »Ich habe dir schon mal von ihm erzählt.«
»Ich
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