Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
du getan hast. Ich ärgere mich nur über mich selbst. Ich hätte gestern Abend um acht zu Hause sein können. Es wäre nicht nötig gewesen, über Nacht wegzubleiben.«
Der Gedanke war Emma auch schon durch den Kopf gegangen. Inmitten ihrer vielen Selbstvorwürfe hatte sie auch Rob verdammt für all die Nächte, die er sie und Maggie allein gelassen hatte – das Arbeiten bis spät in den Abend hinein, die nicht unbedingt notwendigen Geschäftsreisen, die häufigen Besuche bei seiner Mutter.
»Es ist sinnlos, uns selbst Vorwürfe zu machen«, sagte sie. »Davon sollten wir nicht einmal reden.«
Rob schwieg, denn in ihrer Ehe war es Emma, die die Gesprächsregeln bestimmte und entschied, welche Themen einer Diskussion wert waren und welche fruchtlos. Ein Berg unausgesprochener Gedanken ragte bedrohlich zwischen ihnen auf, mit Jacob Stewarts Tod als krönendem Gewicht auf der bröckelnden Spitze. Behutsam nahm Rob seine Hand wieder von Emmas Knie, und schweigend saßen sie nebeneinander, jeder allein mit seinen eigenen Schuldgefühlen.
16
Ein Klopfen an der Tür riss Emma aus dem Tiefschlaf, und als sie die Augen öffnete, sah sie Ruth den Kopf in ihr Büro hereinstecken.
»Ich sollte um sieben nachsehen, ob Sie wach sind.«
»Danke.« Emma setzte sich auf und versuchte, sich zu orientieren.
Junot konnte jeden Moment kommen, und so tastete sie in ihrer Handtasche nach Bürste und Lippenstift und wankte dann noch schlaftrunken in die kleine Toilette, die sich an ihr Büro anschloss. In dem Neonlicht schimmerte ihr Gesicht gelblich. Seufzend kniff sie sich in die Wangen, bürstete ihr Haar auf und bedauerte, dass die Falten um ihre Augen und über der Nasenwurzel sich schon so tief eingegraben hatten. In zwei Wochen würde sie fünfundvierzig werden, und auch wenn sie die gelegentlich aufblitzenden grauen Haare noch einzeln herausreißen konnte, warnte deren an Stahlwolle erinnernde Beschaffenheit sie doch, dass das Alter nichts Anmutiges haben würde. Es würde sich in brüchigen, melancholisch verfärbten Strähnen zeigen.
In Junot Rodriguez’ schwarzem Haar hatte sie noch nie graue Sprenkel entdeckt. Er war ihr jüngerer Geliebter, ihr Trophäenmann – als hätte sie je in ihrem Leben etwas getan, wofür sie einen Preis verdiente. Sie wunderte sich oft, dass er schon so lange mit ihr zusammen war.
»Findest du nicht, dass du zu alt für ihn bist?«, hatte Maggie letztes Jahr in einer ihrer streitlustigen Stimmungen gesagt.
»Junot mag mich«, hatte sie erwidert. »Und er fühlt sich wegen etwas schuldig, das einer anderen Frau vor über einem Jahr passiert ist.«
Und Emma hatte Maggie die Geschichte erzählt, wie sie Junot eines Tages nach dem Abendessen im Haus einer Freundin in Cleveland Park kennengelernt hatte.
»Cleveland Park ist eine sehr noble Gegend, deshalb war ich überrascht, als ich nebenan einen Mann und eine Frau lautstark streiten hörte. Reiche Leute streiten genauso oft wie arme Leute, aber normalerweise tun sie es leiser und versuchen, den Schein zu wahren. Meine Freundin Michelle erzählte mir, dass es in der Beziehung dieses Ehepaares immer weiter bergab ging, seit der Mann seinen Job verloren hatte.«
»Also musstest du dich drum kümmern.« Maggie verdrehte die Augen.
Emmas Miene spannte sich an. Ihre Tochter verdrehte die Augen in letzter Zeit etwas zu häufig. »Häusliche Gewalt ignoriert man nicht einfach so. Wir hatten ein Geräusch gehört, so als ob Glas splitterte, und deshalb sagte ich zu Michelle, sie solle den Notruf wählen, und ich selbst ging hinüber, um nachbarschaftliche Hilfe anzubieten.«
»Und der Mann hat dich reingelassen?«
»Ich habe nicht auf eine Einladung gewartet.«
Emma erinnerte sich noch an die Szene: an den blonden, trügerisch schönen Mann, der aussah, als wäre er soeben einem Ralph-Lauren-Katalog entstiegen, und an das so kalte, makellose Wohnzimmer – weiße Wände, weiße Sofas und Kissen und ein weißer Kamin, an dem eine Frau mit dem Rücken zu ihr stand.
»Geht es Ihnen gut?« Emma war unter dem Arm des Mannes hindurchgeschlüpft und zu der Frau geeilt, ehe der Mann sie aufhalten konnte.
Die Frau versuchte, mit den Händen ihre Nase an ihrem Platz zu halten und das Blut aufzufangen, das schon einige dunkle Flecken auf dem schneeweißen Teppich hinterlassenhatte. Als sie sich zu Emma umdrehte, senkte sie die Finger weit genug, dass die eingedrückte Nase sichtbar wurde, und darunter ein dicker roter Bart auf der Oberlippe.
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