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Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Titel: Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Brodie
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Spielsachen, so als müssten Heimbewohnerinnen auch für Lumpen dankbar sein. Die besonders geschmacklosen Exemplare bewahren wir immer auf, und am nächsten Dienstagabend werden einige Bewohnerinnen und ehrenamtliche Helferinnen unsere Models sein und eine Modenschau veranstalten. Jedes Jahr statten wir die alte Turnhalle mit einem Laufsteg und bunten Scheinwerfern aus, und wir haben sogar einen Ansager. Es ist richtig lustig, wenn auch etwas grotesk   – aber die Kinder lieben es. Ich bin auch eins der Models.«
    Emma stand vom Sofa auf. »Hier, das ist mein Lieblingskleid. Ich bewahre es schon seit Juni auf.« Sie öffnete ihren Wandschrank, griff in einen großen Pappkarton und zog ein Brautkleid mit ausladendem Reifrock hervor.
    »Wie findest du es?« Sie hielt sich das Kleid vor den Körper, ein üppiges Baiser aus glänzendem weißem Satin mit bauschigen Puffärmeln und einem Oberteil, das mit Dutzenden unechter kleiner Perlen in Herzform bestickt war und das von der Brust bis zur Taille ein enormer gelbbrauner Fleck zierte   – ein von Hunderten Klecksen umgebender Fleck.
    Junot lächelte. »Sieht aus, als wäre Cinderella auf dem Ball übel geworden.«
    Emma sah an sich herab. »Oder aber ein sturzbetrunkener Bräutigam hat seine Braut vollgekotzt. So oder so lässt esnichts Gutes ahnen für die Ehe.« Sie stopfte das Kleid wieder in den Karton. »Ich kann ja verstehen, dass eine Frau den Beweis vernichten will. Aber warum gibt man ein derart ruiniertes Brautkleid einem Heim für misshandelte Frauen, falls es nicht sarkastisch gemeint sein soll?« Sie setzte sich wieder aufs Sofa und nahm sich eine weitere Frühlingsrolle. »Martha macht den Saum noch zehn Zentimeter kürzer, damit ich es tragen kann, ohne hinzufallen, und nach der Modenschau näht sie Kissenbezüge aus dem Teil, der sauber ist   … Möchtest du zur Modenschau kommen?«
    Junot nickte. »Klar! Das wird das Highlight meines Jahres werden.«
    Und dann saßen sie, ohne zu merken, wie die Zeit verging, in Emmas Büro, aßen, unterhielten sich und spielten Rommé. Sie erzählte ihm von den letzten Etatkürzungen im Sozialbereich und von den Hoffnungen, die sie auf einen Bundeszuschuss setzte, während Junot ihr erklärte, warum die Polizei nur so langsam Fortschritte machte in einem Mordfall, bei dem ein Arzt im Müllcontainer einer Klinik gefunden worden war, in der er Abtreibungen vornahm.
    »In wirtschaftlich schlechten Zeiten nimmt die Gewalt immer zu«, sagte Junot.
    »Das sehe ich jeden Tag«, erwiderte Emma.
    Um zehn Uhr hatten sie eine Luftmatratze für Junot aufgepumpt und zogen gerade ein Laken darüber, als sie draußen jemanden rufen hörten: »Maria!«
    Zweimal noch brüllte der Mann den Namen, ehe er die Silben dehnte, als würde ein Vater nach einem Kind rufen, das meilenweit entfernt war. »Mariiiia! Mariiiia!«
    »Klingt wie ›West Side Story‹.« Junot lächelte matt.
    Emma schüttelte den Kopf. »Mehr wie Marlon Brando in ›Endstation Sehnsucht‹, wenn er nach Stella ruft, nachdem er sie geschlagen hat.«
    »Das ist die Literaturprofessorin in dir.« Junot nahm seine Jacke vom Haken an der Tür. »Es geht los.«
    Als die beiden in die Eingangshalle kamen, sah Emma schon ein paar Frauen in der Nähe des Haupteingangs stehen.
    »Ich kenne den Mann«, sagte sie mit einem Winken. »Gehen Sie in Ihre Zimmer zurück und sagen Sie allen, dass sie versuchen sollen zu schlafen. Sergeant Rodriguez und ich kümmern uns um ihn.«
    Draußen warf der Mond sein Licht auf den betonierten Weg des Heims. Carlos war nicht zu sehen, doch Emma hörte ihn links von sich zu einem der oberen Fenster an der Westseite des Gebäudes hinaufrufen: »Maria, wo bist du? Ich liebe dich, Maria. Te amo. Kannst du mich hören?«
    »Maria ist an der Rückseite der Schule untergebracht, im zweiten Stock«, murmelte Emma Junot zu. »Und ich hoffe, sie schläft.«
    Carlos kam an die Vorderseite des Heims zurück und rief immer noch: »Maria! Me puede oir?« Weil er keine Antwort erhielt, wandte er sich an Emma: »Ich will meine Frau wiederhaben.«
    Als Carlos das letzte Mal zum Heim kam, hatte er sich von seiner besten Seite gezeigt und im Gespräch mit Emma eine Maske zuckersüßer Höflichkeit aufgesetzt, bis er begriff, dass sie ihm dieses Verhalten nicht abkaufte.
    »Das Heim hat eine einstweilige Verfügung gegen Sie erwirkt«, erwiderte Emma. »Wenn Sie nicht sofort gehen, werden Sie verhaftet.«
    Carlos ignorierte sie und rief wieder zum zweiten

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