Stimmen
die andere Art von Verrücktheit kann dich leicht umbringen.
Aber warum lässt mich dann der Gedanke an Phil nicht los?
Während er nach getaner Arbeit allein zu seinem Haus in den Hügeln zurückfuhr – für diese Abendstunde herrschte auf der Schnellstraße 210 glücklicherweise nur wenig Verkehr –, rief er sich Phils versonnenes, wohlwollendes Lächeln vor Augen. Und jetzt fingen die Tränen an zu strömen. Er schluchzte so heftig, dass seine Schultern bebten.
Und vergiss nicht das hübsche kleine Mädchen, das eine blaue Strickjacke, rosa Shorts und ein Trägerhemdchen getragen hat. Du darfst es niemals vergessen.
Das Gefühl von Verlust und das altbekannte, verhasste Selbstmitleid hatten sich so in ihm angesammelt, dass jetzt alles aus ihm herausströmte. Und das war das Einzige, das verhinderte, dass er seine Totenklage laut herausbrüllte.
Und fast das Einzige, das ihn noch davor bewahren konnte, das Lenkrad herumzureißen und den Wagen in den Abgrund zu steuern.
Kapitel 4
Als sich Peter in den zerwühlten Laken herumwälzte und die Augen aufschlug, nahm er seine Umgebung nur verschwommen wahr. Mit zusammengekniffenen Lidern starrte er auf die Blende aus Satin, die sich von der braunen Wolldecke zu lösen begann. Danach rieb er sich die Augen und nahm einen weiteren nebligen Klecks, der mit Weiß gesprenkelt war, genauer ins Visier: ein zerknautschtes Kopfkissen, das Federn ließ. Immer noch im Halbschlaf tastete er nach der Brille, die auf dem Nachttisch liegen musste.
Aus dem Oberlicht drang ein Sonnenstrahl in eine Zimmerecke und wurde vom Wandspiegel so reflektiert, dass der Raum neben dem Bett in Licht getaucht war. In dem Strahl konnte er Sonnenstäubchen erkennen, die im Rhythmus seines Atems tanzten.
Schön, sich einfach fallen zu lassen – sich dem Schlaf zu überlassen. Sein Kopf sank zurück aufs Kopfkissen.
Er schloss die Augen. Wohl tuende Leere.
Bis auf die Vögel, die im Garten zwitscherten.
Sein Arm zuckte, er schlug die Augen wieder auf. Inzwischen hatte sich der Sonnenstrahl verlagert. Die herumwirbelnden Stäubchen erinnerten ihn an Flocken geronnener Milch in einer Kaffeetasse. Während er sie mit trübem Blick beobachtete, dehnten sie sich in die Länge und nahmen Gestalt an. Er hatte den Eindruck, zwei Beine und einen Arm auszumachen. Kleine Glieder. Der Arm wurde länger und bildete etwas aus, das wie eine Hand aussah. Als schließlich die Umrisse eines Gesichtes auftauchten, machte er die Augen ganz auf. »Alles klar, ich bin jetzt wach«, murmelte er belustigt, beugte sich vor und schwenkte die Arme mitten durch den Sonnenstrahl, was die Stäubchen in heftige Bewegung versetzte, so dass sich die Formen auflösten.
Sein Kiefer schmerzte, außerdem fühlte er sich insgesamt miserabel und stank. Er stieg aus dem Bett, richtete sich auf und schob sich einen Brillenbügel übers Ohr.
Er hatte eine wirre Nacht hinter sich, voller zusammenhangloser Traumfetzen und Erinnerungen, die wie Fische in einem Fangnetz aus der Tiefe an die Oberfläche gestiegen waren. Alle Träume hatten etwas Chaotisches, Surreales gehabt, als folgten sie dem Drehbuch ruheloser, allzu lange eingesperrter Dämonen.
»Kunst, Sperma und Geistesklarheit halten sich nicht lange«, erzählte Peter dem Gesicht im Spiegel.
Nachdem er kurz darüber nachgedacht hatte, trottete er ins Badezimmer und drehte den Heißwasserhahn auf, um zu duschen. Die alten weißen Kacheln in der Duschkabine hatten Risse und waren von Schimmel überzogen. Der ganze Raum roch klamm. Nur gut, dass hier oben in den Hügeln trockene Luft herrschte, sonst wäre der Fußboden längst verrottet.
Während er sich anzog, empfand er die Kleidungsschichten als eine Art Rüstung, ähnlich wie eine Decke, die sich ein Kind zum Schutz über die Augen zieht. Die Welt, die da draußen erwachte, war voller Fallen, einzig und allein dazu aufgestellt, dass es ihm schlecht ging, und das hatte er gründlich satt.
Er schlüpfte in die alten Pantoffeln und schlurfte in die Küche, um mit einer mechanischen Presse französischen Fabrikats Kaffee zu machen. Kaffee schmeckte ihm nur, wenn er auf diese Weise zubereitet war. Als er den roten Plastikkolben durch den gemahlenen Kaffee bis nach unten drückte, drang aus dem Wohnzimmer ein Geräusch, das wie das Läuten eines Telefons klang. Der Hausapparat konnte es nicht sein, schon gar nicht sein Handy, denn beide Telefone meldeten sich wie liebestolle Insekten. Nachdem er den Kolben
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