Stirb ewig
das war nur ein Vorwand gewesen. In Wirklichkeit wollte er erfahren, ob die Jungs etwas über ihre Pläne verraten hatten, bevor sie sich am Dienstag auf den Weg machten.
Denn Michael war am Donnerstag noch im Grab gewesen, das wusste er genau. Er konnte sich das unmöglich eingebildet haben. Der Sargdeckel war fest verschraubt gewesen. Und Michael war nicht Houdini.
Wenn er also am Donnerstag noch drin gewesen war und jetzt nicht mehr, musste ihn jemand befreit und den Deckel wieder zugeschraubt haben. Aber wer?
Michaels typischer Humor?
Wieso war er dann nicht zur Hochzeit erschienen?
Er drehte sich mit seinen Überlegungen im Kreis. Ashley glaubte, Michael habe nicht im Sarg gelegen, und Mark habe sich die Stimme eingebildet. Manchmal glaubte er es ja selbst.
Er musste unbedingt noch einmal mit Ashley darüber sprechen. Wenn Michael nun doch irgendwie herausgekommen war und ihren Plan durchschaut hatte?
Aber dann hätte er mit Sicherheit schon längst versucht, einen von ihnen zur Rede zu stellen.
Er erhob sich und überlegte, ob er zu Ashley fahren sollte. Er fand ihr kühles Verhalten aufreizend, sie tat, als wäre alles seine Schuld. Doch er wusste schon jetzt, was sie zu ihm sagen würde.
Wieder lief er ruhelos durchs Zimmer. Was könnte Michael den E-Mails in seinem Palm Pilot entnehmen, falls er lebend aus dem Sarg gekommen war?
Plötzlich begriff Mark, dass er in der Panik der vergangenen Tage eine sehr einfache Möglichkeit übersehen hatte. Michael hatte den Inhalt seines Pilot immer auf dem Büroserver gesichert.
Er ging ins Arbeitszimmer, schaltete den Laptop ein und loggte sich in den Bürocomputer ein. Schimpfte los. Der verdammte Server lief nicht.
Und es gab nur einen Weg, ihn zum Laufen zu kriegen.
63
WENN ROY GRACE Max Candille begegnete, dachte er jedes Mal, wie unglaublich gut der Mann doch aussah. Er war Mitte zwanzig und erinnerte mit dem blond gefärbten Haar, den blauen Augen und ebenmäßigen Zügen an einen modernen Adonis. Er hätte durchaus als Model oder Filmstar arbeiten können, zog es aber vor, sich in einer bescheidenen Doppelhaushälfte im Londoner Vorort Purley seiner Gabe zu widmen. Doch auch so entwickelte er sich allmählich zum Medienstar.
Von außen verriet das Haus mit dem falschen Tudor-Fachwerk, dem gepflegten Rasen und dem Smart, der in der Einfahrt parkte, nur wenig über seinen Bewohner.
Von innen war es ganz in Weiß gehalten. Das galt zumindest für das Erdgeschoss, weiter war Grace nie gekommen. Wände, Teppich, Möbel, schlanke moderne Skulpturen, Gemälde und selbst die Katzen, Mini-Versionen der Tiger von Siegfried und Roy, waren weiß. Und vor ihm saß das Medium in einem reich verzierten Rokokosessel aus weißem Holz und Satin, gekleidet in einen weißen Rollkragenpullover, weiße Jeans von Calvin Klein und weiße Lederstiefel.
Candille hielt anmutig die Porzellantasse mit Kräutertee und fragte in geziertem, aber besorgtem Tonfall: »Sie sehen müde aus, Roy. Arbeiten Sie zu viel?«
»Ich möchte mich noch einmal entschuldigen, dass ich so spät gekommen bin«, sagte Grace und nippte an seinem Espresso.
»Die Geisterwelt unterliegt nicht den gleichen Zeitgesetzen wie die der Menschen, Roy. Ich betrachte mich nicht als Sklave der Uhr. Sehen Sie!« Er stellte die Tasse ab und hob die Hände, um zu zeigen, dass er keine Armbanduhr trug.
»Sie haben es gut.«
»Was die Zeit betrifft, ist Oscar Wilde mein Idol. Er war stets unpünktlich. Als er einmal ungewöhnlich spät zu einer Dinnerparty erschien, zeigte die Gastgeberin erbost auf die Uhr und fragte: Mr Wilde, sind Sie sich eigentlich der Uhrzeit bewusst? Worauf er erwiderte: Teuerste, verraten Sie mir bitte, wie dieses üble Maschinchen wissen soll, was die große güldene Sonne gerade vorhat.«
Grace grinste. »Das ist gut.«
»Wollen Sie mir nun sagen, was Sie heute herführt, oder soll ich raten? Hat es womöglich mit einer Hochzeit zu tun? Warm oder kalt?«
»Dafür gibt es keinen Punkt, Max.«
Candille grinste. Grace hielt große Stück auf ihn. Er traf nicht immer ins Schwarze, doch seine Erfolgsquote lag hoch. Grace verfügte über lange Erfahrung und wusste, dass ein Medium nicht immer Recht hatte, weshalb er gern mit mehreren arbeitete und ihre Ergebnisse verglich.
Kein Medium hatte ihm bislang sagen können, was aus Sandy geworden war – und er war bei vielen gewesen. In den Monaten nach ihrem Verschwinden hatte er jedes Medium aufgesucht, das sich eines
Weitere Kostenlose Bücher