Stirb leise, mein Engel
Schreibtisch und sieht zu, wie Tristan liest.
»Gut«, sagt er und legt das Papier zurück auf den Tisch, »sehr gut.« Dann greift er in die Tasche, holt ein beschriebenes Blatt heraus und reicht es ihr. Es gibt niemanden, dem ich etwas schuldig bin, außer einer: der, mit der ich diese Welt verlasse. Auf ewig will ich mit ihr vereint sein im Tod. Das allein ist mein Wunsch. Unser gemeinsamer Wunsch. Trauert nicht um uns. Wir sind glücklich. Tristan. Warum darf nur er wir und uns schreiben?, fragt sie sich. Aber sie kennt die wenig befriedigende Antwort schon: weil er Tristan ist.
Sie legt seinen Brief neben den ihren, betrachtet ihn.
Schöne Worte.
Nur leider nicht wahr.
Sie hat ihn längst durchschaut. Er ist auch nur ein Lügner, genau wie alle anderen.
»Wie geht es jetzt weiter?«
»Hast du Cola besorgt?«, fragt er.
»In der Küche, im Kühlschrank. Ich hol sie dir.«
»Ich geh schon.«
Er verlässt das Zimmer, das im flackernden Licht der Kerzen aussieht wie eine Gruft. Sie ist völlig ruhig. Fast schon entspannt.
Tristan ist echt ein komischer Typ. Alles an ihm ist kalkuliert, wie bei einem Schauspieler. Sie hat nicht lange gebraucht, um das zu durchschauen. Und trotzdem ist er ihr ein Rätsel geblieben. Er spricht nicht gerne über sich, und weil sie das verstehen kann, sie ist ja genauso, hat sie kaum Fragen gestellt. Und doch muss sie zugeben, dass sie gerne mehr über ihn wüsste.
Tristan kehrt mit einer Flasche Cola und zwei Gläsern zurück und stellt alles auf dem Schreibtisch ab. Dann holt er ein Tütchen aus seiner Ledertasche und legt es daneben. Das Gift. Sie kriegt einen Schreck, ein Schauder fährt durch sie hindurch. Ja, es ist wirklich. Sie werden es tun. Sie werden sterben. Aber sie hat keine Angst.
Tristan dreht sich zu ihr um. »Wir sollten nicht zu lange warten«, sagt er. Wieso die Eile? Hat er etwa Sorge, dass sie der Mut verlässt? Oder ihn? Kurzes Schweigen, dann fragt er: »Wie geht es dir?«
Er steht am Schreibtisch, hält sich an der Lehne des Drehstuhls fest. Einer von uns beiden hier ist total angespannt, denkt sie, und ich bin es nicht. »Wieso kommst du nicht zu mir?«
Er löst sich von der Stelle, auf der er wie festgewachsen steht, und kommt zum Bett. Lässt sich auf die Bettkante nieder. Verschränkt die Arme vor der Brust und schlägt die Beine übereinander. Sie ist froh, dass er da ist, aber noch froher wäre sie, wenn er ihr nichts vormachen würde.
»Was ist eigentlich mit dir los, Tristan? Warum hast du Angst vor mir?«
Wie er sie auf einmal ansieht! Wie ein Insekt, das ihn an einer empfindlichen Stelle gestochen hat und das er gleich zerquetschen wird. Es scheint ihm regelrecht die Sprache verschlagen zu haben. Hektisch nagt er an seiner Unterlippe.
»Ist völlig okay, Tristan. Ich weiß, dass du mich nicht liebst. Ich lieb dich auch nicht. Hat ein bisschen gedauert, bis ich das kapiert hab. Aber du wusstest es von Anfang an, oder?«
Er wirkt wie zu Marmor erstarrt. Anscheinend fürchtet er, dass sie einen Rückzieher macht. Aber das hat sie nicht vor. Sie hätte jetzt nur doch ganz gerne ein klein wenig echte Nähe. Aber dazu wird es nicht kommen. Ist auch egal, denkt sie, es stirbt sowieso jeder für sich allein.
»Okay«, sagt sie, »lass uns nicht länger warten.«
Seine Erstarrung löst sich.
»Leg dich hin«, sagt er mit belegter Stimme, »entspann dich. Ich mache unsere Getränke fertig.«
Sie lässt sich auf den Rücken fallen, schaut an die Decke und hört Rihanna zu, die gerade »I love the way you lie« singt, und sie wundert sich, dass nun alles so gut zusammenpasst, dass alle Lügen am Ende doch eine Wahrheit zu ergeben scheinen. Der Tod ist doch eine Wahrheit, oder? Nach einer Weile geht die Musik aus, und Tristan tritt ans Bett mit zwei Gläsern, in denen die Cola munter perlt, so als wäre sie ein Getränk des Lebens und kein Todestrunk. Sie setzt sich auf.
»Warum hast du die Musik ausgemacht?«
Tristan sagt nichts, hält ihr ein Glas hin. »Komm, trink.« Er lässt sich wie zuvor auf die Bettkante nieder.
»Wir trinken zusammen.«
»Natürlich.«
Gemeinsam heben sie die Gläser an die Lippen. Sie schließt die Augen und lässt die eiskalte Cola in den Mund laufen, die Kehle hinab, spürt, wie die Kälte in ihrem Magen ankommt. Als sie die Augen wieder öffnet, sieht sie, dass Tristan nicht getrunken hat. Sein volles Glas steht unberührt auf dem Nachttisch. Stattdessen hat er eine kleine Kamera in der Hand und filmt.
Was
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