Stirb leise, mein Engel
noch, das geht ja auch nicht anders, aber ich werde ihm so gut wie möglich aus dem Weg gehen.«
»Nicht nur ihm, Natalie. Auch allen anderen. Du musst dich von allen und allem lösen. Es darf nur noch uns beide geben.«
Wieder sieht sie mich mit diesem fast schon beleidigten Blick an. »Es gibt nur uns beide, Tristan.«
Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass sie lügt? Dass es für sie kein Uns gibt, sondern nur Natalie, Natalie, Natalie ? Sie ist schwerer zu durchschauen als die anderen. Schwerer einzuschätzen. Und damit schwerer zu steuern. Das beunruhigt mich. Aber es reizt mich auch. Ich hab noch jede geknackt, Natalie. Bei dir wird es nicht anders sein.
10
»DU BIST AUF der Mailbox von Natalie gelandet. Sag was nach dem Piep, ich ruf zurück.«
Oder auch nicht, dachte Sascha und legte auf. Was war nur mit ihr los? Er kriegte es einfach nicht auf die Reihe. Seit dem Abend im Kino behandelte sie ihn wie einen Aussätzigen: Sie ging nicht ans Handy, reagierte auf keine Nachricht, beantwortete keine SMS . In der Schule machte sie sich unsichtbar. Lief sie ihm doch mal über den Weg, änderte sie sofort die Richtung.
Wieder und wieder zerbrach er sich den Kopf, ob er bei ihrem Treffen was falsch gemacht hatte. Vielleicht hätte er ihre Hand nehmen oder den Arm um sie legen sollen. Warum hatte er es nicht getan? Wirklich weil er sie nicht bedrängen und nichts überstürzen wollte? Oder hatte er sich bloß nicht getraut? Hielt sie ihn deshalb für verklemmt? Für einen Langweiler? Selbst wenn: Das gab ihr nicht das Recht, ihn derart abzuservieren. Wenn sie erwartete, dass er ihr nachlief, hatte sie sich jedenfalls getäuscht. So toll war sie auch wieder nicht. Von jetzt an war sie für ihn gestorben.
Das Dumme war nur: Seit sie für ihn unerreichbar war, musste er dauernd an sie denken. Tag und Nacht. Die Rihanna- CD , die sie ihm gebrannt hatte, hörte er rauf und runter. Aber wie passte das zu seinen Gefühlen für Joy? Ging das überhaupt: in zwei Mädchen gleichzeitig verliebt zu sein? Wie auch immer, eins wusste er schon mal: Verliebtsein war echt kacke.
SASCHA MUSSTE ZWEIMAL hinschauen, bis er Natalie erkannte. Sie befand sich auf der anderen Straßenseite, und er sah sie nur von hinten, aber das Outfit, vor allem die schweren Boots, ließ keinen Zweifel zu. Und sie war nicht allein. Ein Junge schlurfte neben ihr her, mit einer – Sascha traute seinen Augen nicht – giftgrünen Baseballkappe. Er erinnerte sich sofort, wo er genau so eine schon mal gesehen hatte. Konnte ja sein, dass zufällig zwei Leute mit ähnlicher Statur dieselbe Kappe hatten, aber er glaubte trotzdem nicht an einen Zufall. Nein, der Junge, mit dem Natalie auf die U-Bahn-Station zuspazierte, war garantiert der Typ aus dem Kino.
Sascha spürte ein Ziehen unterhalb der Brust. Es wurde noch heftiger, als er mit ansehen musste, wie die beiden stehen blieben und Natalie dem Jungen einen hastigen Kuss auf die Lippen drückte. Danach ging die giftgrüne Baseballmütze weiter Richtung U-Bahn, während Natalie in eine Gasse einbog. Besonders leidenschaftlich hatte der Abschied zwar nicht gewirkt, aber es war trotzdem klar, dass zwischen den beiden was lief. Er kam sich nach Strich und Faden verarscht vor. Wie lange kannten die zwei sich wohl schon? Und wie lange waren sie bereits zusammen? Wieso hatte Natalie ihm nichts davon erzählt? Was hatte der Typ im Kino für ein bescheuertes Spiel gespielt? Wer war er überhaupt? So viele offene Fragen. Es mussten endlich Antworten her! Am besten die ganze verdammte Geschichte! Und am allerbesten sofort!
Eilig überquerte er die Straße und folgte Natalie in die Gasse. In seinem Innern ein Bündel widersprüchlicher Gefühle: Wut, Frustration, Kränkung, Schmerz. Sie wollte gerade in einen Drogeriemarkt, als er rief: »Natalie! Was für ein Zufall!«
Sie drehte sich um. Als sie ihn erkannte, schien sie einen Moment zu überlegen, ob sie ihn nicht einfach links liegen lassen sollte. Sascha war entschlossen, sie in diesem Fall zu packen und festzuhalten.
»Was machst du denn hier?« Ihr Gesicht wurde von Sekunde zu Sekunde roter.
»Nichts Besonderes«, sagte er lässig, während er sich fühlte wie ein Atomreaktor vor dem Super- GAU . »Und du?«
»Äh … Shoppen.«
»Shoppen, aha. Und wer war der Typ von vorhin?«
Jetzt nahm ihr Gesicht endgültig die Farbe einer vollreifen Tomate an.
»Welcher Typ?« Sie lächelte unbeholfen. »Du musst dich getäuscht haben.«
Er war kurz
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