Stirb leise, mein Engel
sie immer, wenn sie an sie denkt, losheulen. Nur heute nicht. Vielleicht, weil sie ihr so nah ist.
Tristan kommt in einer Stunde.
Sie legt den Füller hin. Er wird sauer sein, wenn der Abschiedsbrief nicht fertig ist, aber sie hat ja noch Zeit. Jetzt muss sie sich erinnern. An Alina. An das, was sie hatten. Was sie verbunden hat. Nach ihr wird niemand mehr leben, der davon weiß, und es wird sein, als sei es gar nicht passiert.
Der Abend auf dem Spielplatz, vor ungefähr drei Jahren – nie wird sie ihn vergessen. Allerdings bedeutet das Wort nie jetzt nicht mehr viel. Egal. Stockdunkel war es schon, eigentlich hätten sie längst zu Hause sein sollen, aber sie konnten sich einfach nicht voneinander trennen. Der Spielplatz wurde kaum mehr benutzt und war ziemlich verwahrlost. Sie setzten sich auf die einzige Schaukel, die es noch gab, Alina auf Natalies Schoß, Gesicht an Gesicht.
Selbst nach so langer Zeit braucht sie nur dran zu denken, schon spürt sie wieder Alinas warmen Atem auf der Haut und riecht ihr Erdbeerkaugummi. Die Seile knirschten gequält, aber sie hielten. Alina und sie bewegten sich nicht, saßen nur da, im Herzen der finsteren Nacht, waren sich selbst genug und staunten darüber, dass es sie beide überhaupt gab. Ohne groß nachzudenken, fing sie irgendwann an, Alina zu küssen. Erst auf die Nasenspitze, dann die Wangen, den Hals. Zuletzt auch auf den Mund. Total harmlos. Sie waren ja praktisch noch Kinder und hatten von nichts eine Ahnung. Alina machte zwar nicht richtig mit, aber sie wehrte sich auch nicht. So war sie nun mal. Man musste sie immer ein bisschen schubsen. Es war trotzdem der glücklichste Moment, den sie hatten.
Natürlich hielten die anderen es nicht aus, dass sie beide ohne den ganzen Cliquenscheiß und das oberflächliche Getue auskamen. Zwei unzertrennliche Freundinnen, die den Rest der Welt nicht brauchen – das ging nicht, denen musste man was anhängen. War ja auch klar: Die beiden mussten lesbisch sein. Wenn lesbisch bedeutet, dass ein Mädchen mit anderen Mädchen rummacht wie mit Jungs, dann waren sie nicht lesbisch. Sie und Alina haben nie miteinander rumgemacht, auch nicht, als sie älter wurden und aufhörten, Kinder zu sein; Alina war für so was doch viel zu verklemmt. Und ob sie auf Mädchen im Allgemeinen steht, weiß Natalie gar nicht, sie hat jedenfalls nur eine geliebt: Alina. Selbst jetzt liebt sie sie noch, obwohl Alina alles verraten hat, was ihnen beiden heilig war.
Egal. Sie drückt die Tränen weg, die ihr in die Augen steigen. Das liegt hinter ihr. Wie alles andere auch. Sie nimmt den Füller und beginnt zu schreiben. Letzte Worte an ihre Mutter. Doch nichts mehr über die Qualen, die sie ihr bereitet hat, wenn sie – in bester Absicht zwar, aber auch totaler Ahnungslosigkeit – verlangt hat, dass sie sich endlich wie ein normales Mädchen benehme. Es ist nicht Deine Schuld, Mama, also mach Dir keine Vorwürfe. Niemand ist schuld. Das Leben wollte mich nicht, und ich wollte das Leben nicht. Ich habe nur einen Fehler ausradiert.
Sie überlegt, ob sie Sascha auch ein paar Zeilen hinterlassen soll. Er hätte es verdient, dass sie ihm alles wenigstens im Nachhinein erklärt. Sie schreibt eine halbe Seite, bricht mitten im Satz ab, zerreißt das Papier in kleine Fetzen und wirft sie in den Papierkorb. Es hat keinen Sinn, jemandem was erklären zu wollen. Schon gar nicht, wenn man es eigentlich selbst nicht versteht.
TRISTAN KOMMT AUF die Minute pünktlich und sieht aus wie immer: Kapuzenshirt, weite Hose, grüne Baseballkappe. Nur die Ledertasche ist neu. Ihn zu küssen ist wie Eiswürfel in den Mund nehmen, aber genau das ist es, was sie anzieht: diese Kälte. Es ist die Kälte von feuchter Erde. Erde, in der sie beide bald ruhen. Sie freut sich darauf. Endlich Schluss mit den Lügen und der Heuchelei. Endlich keine Enttäuschungen mehr. Mit Androsch, so hat sie geglaubt, sei es anders. Aber er ist genau wie der Rest. Erst tut er so, als wäre er der Erlöser, dann wendet er sich ab und lässt einen fallen. Er hat nichts verstanden. Rein gar nichts.
Egal.
Kurz bevor Tristan kam, hat sie die Rollläden heruntergelassen, die Vorhänge zugezogen und im ganzen Zimmer Kerzen aufgestellt. Außerdem hat sie ihre Best-of- CD von Rihanna aufgelegt. Tristan hat bis jetzt nichts zu alldem gesagt, aber sie hat gleich gemerkt, dass es ihm nicht gefällt.
»Hast du den Brief geschrieben?«, fragt er.
Sie nickt.
»Lass sehen.«
Sie nimmt ihn vom
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