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Stirb leise, mein Engel

Stirb leise, mein Engel

Titel: Stirb leise, mein Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Götz
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starre viel zu lange in ihren Ausschnitt. Dann in ihr Gesicht. In ihren Augen finde ich etwas unerwartet … Unschuldiges. Verstehe. Damit fängt sie die Männer. Heilige und Hure – sie hat beides drauf, und zwar gleichzeitig.
    »Hi«, sage ich nach ein paar Sekunden, »alles klar bei dir?«
    Sie antwortet nicht, wendet sich ab und zieht den Reißverschluss an ihrem Anorak ganz hoch.
    Okay, so leicht macht sie es mir also doch nicht. Kein Problem. Ich krieg dich trotzdem. Du bist schon so gut wie tot.
    Der Bus kommt. Wir treten an den Bordstein. Ich kicke die Blechdose auf die Straße, ein Reifen des Busses rollt über sie drüber und macht sie platt. Beim Einsteigen lasse ich ihr den Vortritt. Sie setzt sich auf einen Platz in der Nähe der Tür, ich gehe etwas weiter nach hinten, von wo aus ich sie unauffällig beobachten kann. Sie holt ihren MP 3 -Player aus der Jackentasche, steckt die Stöpsel in die Ohren, drückt auf dem Player herum, bis sie das Richtige gefunden hat, und schaut dann bloß noch stumpf aus dem Fenster.
    Von Haltestelle zu Haltestelle füllt sich der Bus immer mehr. An der U-Bahn-Station steigen die meisten aus, sie auch. Ich schwimme in einigem Abstand mit im Strom der Menschen. Sie geht runter in den Untergrund. An einem Kiosk auf dem Zwischengeschoss kauft sie Gummibärchen. Sie steckt sie ein, geht hinab zum Bahnsteig. Hier nimmt sie die Tüte wieder raus, reißt sie auf, guckt hinein und nimmt gezielt ein paar Bären heraus. Es sind die roten, wenn ich richtig gesehen habe. Anscheinend mag sie nur die roten. Vorsichtig pirsche ich mich ran. Unsere Blicke treffen sich. Ich lächle. Sie lächelt nicht zurück. Aber ihr Blick bleibt ein wenig länger an mir hängen als beim letzten Mal. Ich werte das mal als gutes Zeichen.
    Die U-Bahn fährt ein. Wir steigen in den Waggon. Ich nehme extra eine andere Tür, setze mich dann aber auf den Sitzplatz ihr gegenüber. Ich muss sie jetzt ansprechen, ich kann nicht länger warten. Was soll ich sagen? Ich weiß es nicht. Zum ersten Mal weiß ich es nicht. Herzklopfen, schweißnasse Hände. Was ist bloß los?
    Sie holt ihre Tüte mit den Gummibärchen wieder heraus.
    »Krieg ich auch eins?«, frage ich, ohne zu überlegen, und das bringt mich wieder in die Spur.
    Sie sieht mich an aus ihren leicht verschmierten Augen, hält mir die Tüte hin. »Klar«, sagt sie, »kannst sie alle haben.«
    »So viele wollte ich gar nicht.«
    »Dann wirf sie von mir aus weg.«
    »Bist du okay?«
    Sie sagt nichts mehr, tut so, als wäre ich gar nicht da.
    Als die nächste Station angekündigt wird, steht sie auf und geht zur Tür. Komisch. Das ist nicht ihre Haltestelle. Zumindest ist sie hier noch nie ausgestiegen. Ich warte, bis der Zug hält und die Tür aufgeht. Dann springe ich auf und folge ihr. Aber ich komme nicht weit. Während sich hinter mir die Waggontüren klappernd schließen, schnellt sie auf dem Absatz herum und stürmt auf mich zu. Mit wenigen großen Schritten ist sie bei mir und stößt mir beide Hände gegen die Brust. Ich verliere das Gleichgewicht, falle nach hinten und knalle auf den harten Boden. Meine Baseballmütze fliegt mir vom Kopf. Sie beugt sich über mich, hält mir die geballten Fäuste vors Gesicht und droht mir durch zusammengebissene Zähne: »Wenn du nicht aufhörst, mir nachzusteigen, hau ich dir auf die Fresse!«
     
    ES MACHT MICH krank.
    Dauernd stelle ich mir vor, wie sie im Todeskampf aussieht; und wie danach, wenn sie tot ist. Diesmal will ich nicht mehr nur schauen. Ich will berühren. Das Haar. Die Haut. Die vollen Brüste. Ich will bei ihr bleiben, bis ihr Körper kalt und steif ist. Vielleicht werde ich sie sogar küssen. Und andere Dinge mit ihr tun. Aber nicht, solange Leben in ihr ist und Verlangen.
    Diese Phantasien beflügeln mich. Aber sie machen mir auch Angst. Ich hatte sie nicht, als ich angefangen habe. Eigentlich wollte ich nur etwas richtigstellen. Etwas ausradieren und einen Schmerz heilen. Indem ich es ihnen heimzahle …, alles. Aber jetzt … Wo kommen sie her, diese Bilder und diese Wünsche? Warum werden sie immer größer und immer mächtiger? Warum fühle ich mich so gut mit ihnen? So lebendig?
    Egal, für dieses Mal. Was ich mir ausmale, wird nicht geschehen. Nichts davon. Weil diese dreckige Fotze von einer Nutte mich nicht an sich ranlässt. Wieso hasst sie mich? Sie kennt mich doch gar nicht! Dieses arrogante Stück Dreck!
    Aber sterben muss sie, mehr denn je, ob sie will oder nicht.
     
    JETZT WEISS

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