Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stirb leise, mein Engel

Stirb leise, mein Engel

Titel: Stirb leise, mein Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Götz
Vom Netzwerk:
letztes Winken, dann war sie weg.
    Komisch, dachte Sascha, ein Teenager, der sich ein Taxi nimmt, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt. Wahrscheinlich hatte sie reiche Eltern, die sich das leisten konnten. Wie auch immer, so ein Abgang war schon ziemlich lässig.
    Er überlegte, ob er auch nach Hause fahren oder an Natalies Grab gehen sollte. Die Beisetzung war bestimmt noch nicht vorbei. Doch er hatte keine Lust, seinen Mitschülern zu begegnen. Später, dachte er deshalb, wenn die anderen weg sind.
     
    ES DÄMMERTE SCHON, als Sascha zurückkehrte. Erst als er verloren inmitten des weitläufigen Friedhofs stand, wurde ihm bewusst, dass er keine Ahnung hatte, wie er in diesem Heer aus Steinen, Kreuzen und Figuren Natalies Grab finden sollte. Zum Glück kam ihm ein Friedhofsangestellter entgegen. Er fragte ihn nach dem Mädchen, das heute beigesetzt worden war, und war froh, dass der Mann nicht nur Bescheid wusste, sondern ihn begleitete, bis er es nicht mehr verfehlen konnte.
    »Da drüben ist es«, sagte er und fügte hinzu: »Schau an, das Mädel hat schon einen Gast.«
    Sascha wusste nicht, was er meinte, erst als er in die Richtung schaute, in die der ausgestreckte Arm des Mannes wies, sah er, dass schon jemand an Natalies Grab stand. Und nicht irgendjemand!
    Das gibt’s doch nicht, dachte er. Mareike!
    Statt zu ihr zu gehen, zog er sich hinter einen Strauch zurück, der freilich, halb entlaubt, wie er war, nur spärlichen Schutz bot. Doch Mareike hatte ohnehin für ihre weitere Umgebung keine Antennen offen. Sie schaute nur auf den Grabhügel, den die Bestatter mit Kränzen und Blumengestecken bedeckt hatten. Nach einer kurzen Weile zog sie Etui und Feuerzeug aus der Jackentasche, nahm eine Zigarette, zündete sie an und rauchte. Tief trauernd, deprimiert oder gar verzweifelt wirkte sie dabei zwar nicht, aber was sagte das schon darüber aus, wie es in ihrem Innern aussah? Allein, dass sie zurückgekommen war, sprach doch für sich. Natalie musste ihr viel bedeutet haben.
    Da er Mareike nicht stören wollte, zog er sich zurück. Er würde an einem anderen Tag wiederkommen. Während er den Friedhof verließ, blieb dieses Bild in seinem Kopf: Mareike an Natalies Grab, eine Zigarette rauchend. Je länger er es sich vor Augen führte, desto mehr irritierte ihn etwas an der Art, wie sie dagestanden hatte. Aber er kam nicht darauf, was es war.

[zurück]
     
    DA KOMMT SIE. Mein Gott, wie sie heute wieder aussieht. Knallrote Lippen. Die Riesenbrüste quellen ihr schier aus dem Ausschnitt. Die Jeans so eng wie eine zweite Haut. Und wie sie auf ihren High Heels daherstöckelt und dabei mit den Hüften wackelt. Nuttiger geht’s wohl nicht. Kein Wunder, dass alle sich den Hals nach ihr verdrehen, Männer wie Frauen. Widerlich! Ich könnte kotzen! Und gleich noch mal, wenn ich mir vorstelle, dass sie es eben miteinander getrieben haben, auf der Couch oder dem Boden oder wo auch immer.
    Moment –
    Was hat sie denn?
    Flennt sie?
    Hm. Vielleicht hat er ihr den Laufpass gegeben. Weil er eine Neue hat. Mal wieder. Und was heißt das für mich? Eigentlich ist das doch super! Ich brauch ihr bloß meine Schulter zum Anlehnen hinzuhalten, und schon bin ich im Geschäft.
    Sie überquert die Straße, kommt genau auf die Parklücke zwischen dem alten Opel und dem Kastenwagen zu. Ich trete einen Schritt zurück, noch darf ich ihr nicht auffallen. Meine Hände zittern so sehr, dass ich sie in die Hosentaschen stecken muss. Ich würde mir gerne eine anzünden, aber ich will nachher nicht nach kaltem Rauch riechen, vielleicht findet sie das abstoßend. Cool bleiben, sonst versaue ich es noch. Sie geht zwischen den beiden Autos durch, ist für ein paar Sekunden nur eine Armlänge von mir entfernt. Mein Gott, wie sie duftet. Was ist das für ein Parfüm? Es weht mich fast um, so toll riecht es. Eigentlich viel zu geschmackvoll für eine Nutte wie sie.
    Mit einigem Abstand folge ich ihr. So dicht muss ich nicht dranbleiben, ich weiß ja, wohin sie geht.
    An der Haltestelle sind nur wir beide. Sie hat aufgehört zu weinen, steht nur da und starrt vor sich hin. In der Faust hat sie ein Taschentuch eingeschlossen. Ihre Wimperntusche ist ein bisschen verwischt. Sie schenkt mir ungefähr so viel Aufmerksamkeit wie der zusammengedrückten Cola-Dose neben dem Abfalleimer. Ich mache zwei Schritte auf sie zu. Jetzt schaut sie doch zu mir herüber. Es verschlägt mir die Sprache. Ich hab sie noch nie so nah vor mir gesehen und

Weitere Kostenlose Bücher